Mülheim. Rassismus begegnen – Verantwortung übernehmen: Zu einer Mülheimer Demokratiekonferenz kamen jetzt 100 Teilnehmer zusammen. Was Expertinnen sagen.
100 haupt- und ehrenamtliche Fachleute aus allen Bereichen der Bürgerschaft ließen sich jetzt bei einer Demokratiekonferenz Ideen für eine Stadtgesellschaft liefern, in der Rassismus überwunden und alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Verantwortung für das kommunale Gemeinwesen übernehmen, in dem heute Menschen aus mehr aus 140 Nationen leben.
Mülheim: 16 Prozent der Bürger ohne deutschen Pass
Von den aktuell 172.565 Mülheimern haben 27.557 keine deutsche Staatsangehörigkeit. Das sind 16 Prozent der Stadtbevölkerung. Der Anteil der Mülheimer, die deutsche Staatsangehörige sind, aber auch einen zweiten Pass haben, ist zwischen 2006 und 2020 von 5,2 auf 8,8 Prozent gestiegen.
1910 lag der Anteil der Mülheimer ohne deutsche Staatsangehörigkeit bei knapp vier Prozent. Im Jahr 2006 war bereits jeder zehnte Mülheimer ein Mensch mit Zuwanderungsgeschichte.
Zu den früh zugewanderten Mülheimern gehört unter anderem der aus Belgien stammende Jean Baptiste Coupienne. Er kam als entlassener Soldat 1795 nach Mülheim, baute hier eine der führenden Gerbereien auf und gehörte 1808 dem ersten Stadtrat an. Seine Nachkommen schufen die Grundlagen für den Aufstieg der Mülheimer Lederindustrie.
Auch in der Hochindustrialisierung um 1900 kannten die Mülheimer Menschen, die als Zuwanderer in die Stadt kamen, um in der örtlichen Industrie zu arbeiten und damit die Existenz ihrer Familien zu sichern. Neben den Zuwanderern aus dem deutschen Reich waren es auch Polen, Franzosen, Italiener, Niederländer und Belgier, die zu Mülheimern wurden und ihren ganz eigenen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt am Fluss leisteten.
Das galt auch für die in den 1950er, 1960er und in den frühen 1970er Jahren angeworbenen Gastarbeiter aus Italien, der Türkei, Griechenland, Spanien und Portugal. Sie beseitigten den damals akuten Arbeitskräftemangel und leisteten damit einen Beitrag zum westdeutschen Wirtschaftswunder. Viele von ihnen blieben mit ihren Familien auch nach dem Ende ihres Berufslebens an der Ruhr und wurden zu Mülheimern. (T.E.)
Bürgermeister Markus Püll (CDU) erinnerte in seinem Grußwort an die jüngsten antisemitischen Vorfälle als Beispiel dafür, wie menschenverachtender Extremismus unsere Demokratie gefährden kann. Die Impulse der vierstündigen Veranstaltung lieferten die Theologin und Pädagogin Anne Broden und die an der Technischen Hochschule Köln lehrende und forschende Sozialwissenschaftlerin Yasmine Chehata. Eingeladen hatten das Centrum für bürgerschaftliches Engagement, die Katholische Akademie „Die Wolfsburg“ und das Kommunale Integrationszentrum.
„Wir müssen erkennen, dass wir alle nicht frei von Rassismus sind“
Mit den Referentinnen hatten die finanziell von Bund, Land, MEG und Westenergie unterstützten Veranstalter zwei Fachfrauen, die sich mit ihrer Antirassismusarbeit in Theorie und Praxis Verdienste erworben haben. Anne Broden hat 17 Jahre das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen geleitet.
„Wir müssen erkennen, dass wir alle nicht frei von Rassismus sind. Das geistige Erbe des Kolonialismus und des Nationalsozialismus wirkt in unserer Gesellschaft bis heute nach“, sagte Broden. Nur auf der Basis dieser Selbsterkenntnis kann in ihren Augen „das Schubladendenken überwunden werden.“
Massive Benachteiligung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche
Dass ein bio-deutscher Mann eine schwarze Frau in der Straßenbahn auf Englisch anspricht, weil er davon ausgeht, dass sie selbstverständlich kein Deutsch versteht, oder die Vorstellung, dass eine muslimische Frau mit Kopftuch eine Islamistin sein müsse, waren nur zwei Beispiele, mit denen sie aufzeigte, dass Alltagsrassismus nicht gleich mit der politischen Extremismus-Keule auftreten muss, sondern auch unterschwellig, bewusst oder unbewusst daherkommen kann.
Brodens Co-Referentin Yasmine Chehata nannte das „eine rassistische Mikro-Aggression. Sie ließ aber keinen Zweifel daran, dass der sehr viel offenere Rassismus, der Menschen mit offensichtlicher Zuwanderungsgeschichte zum Beispiel bei der Wohnungs- und Arbeitssuche massiv benachteiligt, die eigentliche politische Baustelle in unserer Demokratie sei.
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Viele sind gefordert: Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Schule und Hochschule
Chehata machte unumwunden klar, dass Integration, Inklusion und Überwindung von Rassismus für alle Beteiligten eine anstrengende und oft auch schmerzhafte Marathonaufgabe darstelle. Im Kern geht es für die Sozialwissenschaftlerin, die selbst eine Zuwanderungsgeschichte hat, „um soziale Gerechtigkeit und um die Umverteilung von Macht und Kapital.“
Dabei denkt Chehata nicht nur ans Geld, wenn sie vom Kapital spricht. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe sind für sie die eigentliche Währung, an der sich ablesen lässt, ob die Überwindung von Rassismus und gesellschaftlicher Desintegration ein Lippenbekenntnis bleibt oder eine Tatsache wird. Entscheidend dafür, ob der Schritt vom guten Vorsatz zur guten Tat gelingt, ist aus ihrer Sicht die Reflexions- und Einsichtsfähigkeit der „weißen Eliten“ in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Schule und Hochschule.
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Zuwanderern echte Handlungsräume eröffnen
Von ihnen erwartet Chehata, dass sie Zuwanderern echte Handlungsräume eröffnen und nicht nur eine symbolpolitische Repräsentation einräumen. Vor allem in kommunalen Integrationsräten erlebe sie immer wieder Stadträte, die sich in diesen Gremien profilieren, aber keine gesellschaftspolitischen Probleme lösen wollten.
Mit Begriffen wie „Ermächtigung“, „Machtteilung“, „Selbstbehauptung“ und „Selbstbefreiung“ machte Chehata deutlich, dass es für die Zuwanderer der zweiten und dritten Generation nicht mehr nur um Akzeptanz und Hilfe, sondern um faktische Teilhabe und Mitgestaltung in unserer Einwanderungsgesellschaft gehe. Am Beispiel der amerikanischen Bürger- und Frauenrechtsbewegung zeigte Yasmine Chehata, dass diese Gleichberechtigung nur mit Verantwortung und politischer Selbstorganisation möglich sei.
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Gilbert Raymonde-Driesen setzt auf Mülheimer Anti-Rassismus-Stelle
Unter dem Eindruck der beiden Vorträge und den sich anschließenden Arbeitsgruppen bilanziert die aus dem Senegal stammende und dem Vorstand des Integrationsrates angehörende Pädagogin und CBE-Mitarbeiterin Gilbert Raymonde-Driesen, „dass diese Demokratiekonferenz dazu beigetragen hat, dass viele Entscheidungsträger in unserer Stadt eingesehen haben: Dass Rassismus in unserer Stadt ein Thema ist und das wir gemeinsam an dieser Baustelle arbeiten müssen“. Wichtig ist ihr dabei, „dass die von Diskriminierung betroffenen Menschen selbst definieren, was sie als rassistisch oder als nicht rassistisch empfinden“.
Sie selbst erinnert sich in diesem Zusammenhang ungern daran, dass ein Zuwanderer, der heute als Diplom-Chemiker seine Doktorarbeit schreibt, von seiner Grundschullehrerin dringend davor gewarnt wurde, sich mit dem Besuch des Gymnasiums intellektuell zu überfordern. Auch dass zuletzt Zuwanderer verdächtigt wurden, sich nicht an die Corona-Schutzregeln zu halten und damit für steigende Infektionszahlen verantwortlich zu sein, erlebe sie als praktizierten Rassismus.
Vor diesem Hintergrund hofft sie auf die Einrichtung einer städtischen Anti-Rassismus-Stelle, die von Diskriminierung Betroffenen als Anlauf- und Beratungsstelle dienen könnte.