Mülheim. Viele Senioren fürchten dunkle Ecken, dabei sind Callcenter gefährlicher. Die Polizei registrierte 2020 fast 650 betrügerische Anrufe in Mülheim.

24. November 2020, 10 Uhr. Anruf bei einem 83-jährigen Herrn in Holthausen: Ein „Kriminalkommissar“ will ihn vor vermehrten Einbrüchen in der Nachbarschaft warnen und fragt, ob der Mann Bares oder Wertsachen zu Hause habe. Der 83-Jährige reagiert clever, wittert den Trickbetrug, hält den Anrufer mit Geschichten über Geld und Gold bei Laune - und alarmiert über eine andere Leitung die Polizei. Als die Beamten eintreffen, werden die Betrüger aggressiv: Er habe „falsche Polizeibeamte“ ins Haus gelassen, solle sie am besten erschießen oder erstechen. Letztlich legen sie auf.

32 Mülheimer Senioren sind 2020 auf betrügerische Anrufe hereingefallen

Dieser krasse Fall ist, wie viele andere, in die Kriminalitätsstatistik 2020 des Essener Polizeipräsidiums eingegangen. Als Versuch. Dort ist den „Straftaten zum Nachteil älterer Menschen“ (gemeint sind alle über 60) ein eigenes Kapitel gewidmet. Es geht um Trickbetrug, wichtigstes Tatwerkzeug ist das Telefon.

Insgesamt 647 solcher bösartigen Anrufe gab es im vergangenen Jahr in Mülheim, 32 ältere Leute sind tatsächlich darauf hereingefallen. Etwa am 9. November 2020: Bei einer über 80-jährigen Mülheimerin klingelt das Telefon. Schlechte Nachrichten: Ihr schwer kranker Sohn brauche dringend Bargeld für ein wichtiges Corona-Medikament. Die Seniorin geht zur Bank, hebt eine fünfstellige Summe ab. Vor ihrer Haustor wartet eine junge Frau, die das Kuvert entgegen nimmt. Und verschwindet...

Anrufe kommen oft aus dem Ausland: „Besonders perfider Bandenbetrug“

Was die Ermittler schon lange wissen: Die Betrüger rufen immer öfter aus dem Ausland an. Am weitaus häufigsten als falsche Polizisten, oft aber auch mit dem Enkeltrick oder Schockanrufen. In jüngster Zeit werden oft schwere Corona-Erkrankungen von Angehörigen vorgespielt. Die Senioren haben diesen emotionalen Attacken häufig nichts entgegen zu setzen.

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Die Polizei spricht in ihrer Bilanz von einer „besonders perfiden Ausprägung des organisierten Bandenbetrugs“ und hat im vergangenen Jahr eine spezielle „Ermittlungsgruppe Call Center“ eingerichtet, gemeinsam mit dem Polizeipräsidium Oberhausen. Hier wird länderübergreifend gefahndet.

Polizei warnt: „Wenn man zwei Minuten dran bleibt, haben sie einen meist.“

Die Täter, das weiß man auch, sitzen häufig in der Türkei und sind bestens vorbereitet. Sie mieten extra Büroräume an und nutzen das sogenannte „Call-ID-Spoofing“ - im Display des Angerufenen erscheint dann eine vorgetäuschte Telefonnummer. Die Täter sind rhetorisch fit und üben massiven Druck aus. „Die Betrüger gehen sehr professionell vor“, sagt auch Polizeisprecherin Judith Herold. Sie sprechen nicht nur perfekt Deutsch. „Sie kennen auch den Fachjargon von Polizei und Justiz. Wenn man da zwei Minuten dranbleibt, dann haben sie einen meist.“

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Am besten wirkt also, was die Polizei immer wieder dringend rät: Sofort auflegen. Viele Senioren in Mülheim haben das offensichtlich verstanden. Denn von insgesamt 595 betrügerischen Anrufen 2020, die nachweislich aus dem Ausland kamen, hatten nur drei Erfolg. Drei ältere Leute wurden geschädigt, um insgesamt 1293 Euro. Die allermeisten Fälle, 99,5 Prozent, sind im Versuchsstadium gescheitert. Im Vergleich zu 2019 ist die Zahl dieser Anrufe aber deutlich gestiegen: von 527 auf 595.

Auch Trickdiebstähle nehmen zu

Immer häufiger sind ältere Menschen auch von Trickdiebstählen betroffen, heißt es in der Jahresbilanz 2020 der Polizei.

Auch hier würden Opfer gezielt ausgewählt aufgrund altersbedingter oder gesundheitlicher Einschränkungen. Die Täter kommen dann unter einem Vorwand in die Wohnung, zum Beispiel klassisch als falsche Wasserwerker.

Diese Delikte gegen Senioren werden in der Kriminalitätsstatistik aber nicht gesondert erfasst.

Ältere Mülheimer verloren an Trickbetrüger insgesamt eine sechsstellige Summe

Anders sieht es beim Trickbetrug gegen Senioren aus, der sich allein in Mülheim abspielt. Hier berichtet die Polizei von 52 Fällen (sieben mehr als 2019), die meist auch erfolgreich waren: 29 Mal sind ältere Menschen darauf hereingefallen und haben insgesamt 112.378 Euro verloren.

Wahrscheinlich ist der Schaden, nicht nur der materielle, wesentlich größer. Denn was die Polizei auch immer wieder betont: Die Dunkelziffer dürfte immens sein, weil viele Opfer sich zu allem Unglück auch noch schämen.