Mülheim. Im Mülheimer Impfzentrum ist es zum Konflikt zwischen Impfärzten gekommen. Es soll nicht ausreichend über Astrazeneca aufgeklärt worden sein.
Es ist Montagnachmittag, der 29. März um 16 Uhr, als über die Nachrichtenagenturen die Meldung läuft, dass der Kreis Euskirchen die Impfungen mit Astrazeneca bei Frauen unter 55 Jahren vorläufig stoppt. Die Stadt Essen zieht kurz darauf nach. Als der Mülheimer Impfarzt Dr. Markus Becker diese Nachricht liest, beginnt er, die Frauen im Impfzentrum vor Astrazeneca zu warnen. Für den leitenden Impfarzt an diesem Tag, Dr. Wilfried Abel, ein Grund, Becker vom Impfen abzuziehen. Wer hat Recht in dem Konflikt?
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Montags werden in Mülheim zum Großteil Berufsgruppen geimpft, die derzeit in der Prioritätenliste oben stehen: Grundschulpersonal, Erzieherinnen, medizinisches Personal … „An dem Tag waren vor allem Frauen da, die meisten relativ jung“, sagt Markus Becker. Als er vom leitenden Impfarzt Dr. Stephan von Lackum eine WhatsApp-Nachricht zum Impfstopp in Euskirchen und Essen bekommt, nimmt er diese Info in seine Aufklärungsgespräche auf. „Etliche, die sich ohnehin nicht ganz sicher waren mit der Impfung, haben sie daraufhin abgelehnt“, schildert Becker.
Impfungen mit Astrazeneca für Unter-60-Jährige erst am nächsten Tag eingestellt
Als Arzt ist er nach der Berufsordnung nur seinem Gewissen verpflichtet. Für ihn sei klar gewesen, dass er die neusten Entwicklungen auch den zu impfenden Frauen mitteilen müsse. „Wenn meine Tochter an dem Nachmittag mit Astrazeneca geimpft worden wäre, hätte ich Strafanzeige wegen Körperverletzung gestellt.“ Allerdings hat es zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Verfügung des Landes gegeben. Erst am nächsten Tag stellt das Gesundheitsministerium aufgrund mehrerer Fälle von Sinusvenenthrombosen die Impfungen mit Astrazeneca für Unter-60-Jährige ein.
Der leitende Impfarzt Wilfried Abel beruft sich auf die Vorgaben des Landes. „Wir arbeiten streng nach Erlass“, sagt er. „Für uns ist nicht maßgeblich, was auf irgendwelchen Handys erscheint.“ Abel schildert das Vorgehen Beckers deutlich offensiver. Er habe die zu impfenden Frauen nicht nur über den Impfstopp informiert, er habe ihnen von einer Impfung abgeraten.
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Das belegten Beschwerden von Frauen, die an diesem Tag ins Impfzentrum gekommen waren und aus denen Wilfried Abel zitiert: „Ich habe mich gegen eine Impfung entschieden, weil ich massiv verunsichert wurde“, schreibt eine medizinische Angestellte. Eine Ärztin, die an dem Tag das Astrazeneca-Vakzin erhalten sollte, schildert in ihrer schriftlichen Beschwerde, dass Markus Becker sie gefragt habe, ob sie sich wirklich mit dem Astra impfen lassen wolle. „Astrazeneca ist höchstgefährlich“, habe er gesagt, auch als sie erwiderte, dass sie selbst Medizinerin sei und keine Aufklärung brauche.
Leitender Impfarzt: „Astrazeneca ist nicht höchstgefährlich“
Der leitende Impfarzt widerspricht der Formulierung des Kollegen, auch wenn der offizielle Impfstopp am nächsten Tag Becker zum Teil Recht geben sollte. „Astrazeneca ist nicht höchstgefährlich, es ist als problematisch eingestuft worden.“ Solche Einschätzungen zu treffen, obläge aber eben nicht dem Mülheimer Impfzentrum, sondern dem Paul-Ehrlich-Institut oder der Ständigen Impfkommission. Die Aussagen von Markus Becker hätten die Frauen unnötig verunsichert, einige hätten geweint. Zudem hat die EU-Arzneimittelbehörde am Mittwochnachmittag bekanntgegeben, an dem Vakzin festzuhalten.
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Nachdem Abel an dem Montag die Unruhen im Impfzentrum mitbekommen hat, habe er Becker zur Rede gestellt, er solle so aufklären, wie es die Formulare vorgeben. Weil sich der Mülheimer Hausarzt geweigert hat, habe er ihm gesagt, dass er gehen müsse, wenn er sich nicht an die Regeln halte. Becker wirft ihm vor, ihn auch für die kommenden Tage aus dem Dienstplan gestrichen zu haben – das stimme nicht, entgegnet Wilfried Abel.
Keine Möglichkeit, auf Biontech zu wechseln
Wie die Impfärzte ausgewählt werden
Markus Becker, der selbst Haus- und Impfarzt ist, zweifelt die Qualifikation des Orthopäden Wilfried Abel, der als Senior Consultant in der Orthopädie, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie am Evangelischen Krankenhaus in Oberhausen arbeitet, als leitender Impfarzt an.
Abel hat Erfahrung im Notdienst – eine Voraussetzung, um leitender Impfarzt zu werden. Impfärzte müssen, so Stephan von Lackum, lediglich approbiert sein. Leitende Impfärzte müssen als Arzt im Rettungs-, bzw. Notdienst Erfahrung aufweisen. Ausgewählt wurden sie von der Kassenärztlichen Vereinigung.
Ein Impfarzt im Impfzentrum bekommt 150 Euro die Stunde, die leitenden Ärzte bekommen 200 Euro die Stunde. Sie leisten eine Zwölf-Stunden-Schicht an ihren Einsatztagen. In der Regel sind drei Impfärzte zur Aufklärung eingeteilt, einer setzt die Spritzen. Der leitende Impfarzt verantwortet die Impfungen.
Es habe, anders als Becker sagt, auch nicht die Möglichkeit gegeben, die ausstehenden Termine mit Biontech zu impfen. „Mal eben 40 Astra-Impfungen auf Biontech zu switchen – das geht nicht“, sagt Abel. „Dafür brauchen wir etwas Vorlauf.“ Die Impfstoffe seien limitiert und klar verteilt.
Dr. Stephan von Lackum, der für die Kassenärztliche Vereinigung in Mülheim spricht und ebenfalls leitender Impfarzt im Mülheimer Impfzentrum ist, gibt sich diplomatisch: „Beide Kollegen haben Recht.“ Zwar habe Becker wahrheitsgemäß aufgeklärt, aber seine Aussagen hätten keine wissenschaftliche Evidenz gehabt. „Es gab nur eine Pressemeldung, keine behördliche Weisung.“ Wilfried Abel sei nichts anderes übriggeblieben, als auf die Weisung des Landes zu hören – und weiterimpfen zu lassen.