Mülheim. Seit Jahren verzeichnen Mülheims Stadtteilbibliotheken steigende Besucherzahlen. Nun ist ihr Aus beschlossen. Kritiker halten das für fatal.
Hat es der Politik beim Haushaltsbeschluss an Augenmaß gemangelt? Mit Mehrheit und Erleichterung hat der Rat den Sparvorschlag von CDU und Grünen für die kommenden drei Haushaltsjahre beschlossen. Denn für sie bot sich damit ein Weg aus dem massiven Widerstand im OGS-Bereich. Doch die mitbeschlossene Schließung der vier Stadtteilbibliotheken ruft Zweifel bei Akteuren in den Stadtteilen auf: Sie sehen die Bildung von Kindern und wichtige soziale Orte gefährdet.
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65 Kooperationspartner, Schulen und Kitas greifen auf Stadtteilbibliotheken zu
Denn einfach nur Bücher stempeln, verwalten und über die Theke reichen? Das war vermutlich nicht einmal „früher“ nur der Fall. Und erst recht nicht heute: „Bibliotheken sind Schnittstellen zwischen Bildung und Kultur. Sie sind wichtig als Orte des Lernens, Lesens, als Treffpunkte für alle Generationen, Orte der Begegnungen und Kommunikation, der Integration, Information, der Veranstaltungen, Ausstellungen, Spiele…“, zählt der Freundeskreis der Stadtbibliothek in seiner Kritik eine Reihe von Funktionen auf, die von den Bibliotheksfachkräften im Kiez geleistet werden.
Das zeigt schon die hohe Zahl der 65 Kooperationspartner unter anderem aus Kitas und Schulen, die auf Leistungen der Stadtteilbibliotheken zurückgreifen. Allein 21 sind es in Styrum, wo, wie wohl nirgends sonst in der Ruhrstadt, die soziale und Bildungsbedeutung greifbar ist. „Die Stadtteilbibliothek ist ein Tor zur Bildung für viele Schichten“, sagt Max Schürmann.
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Fachkräfte entwickeln pädagogische Programme, die Lehrer nicht leisten können
Der Geschäftsführer der Feldmann Stiftung kennt „seinen“ Wirkungsort seit drei Jahrzehnten ganz genau. Und er ist von der Streichung mehr als überrascht, offenbar kennten die politischen Entscheider die geleistete Arbeit hier nicht: „Die Fachkräfte entwickeln hier gezielt pädagogische Programme für Kitas und Schulen, die die Lehrkräfte oft nicht leisten können, zum Beispiel Literaturrallyes.“
Reißt man durch die Streichung hier Bildungschancen ein, die man durch Schonung im OGS-Bereich erhalten will? Die Ausleihzahlen von rund 30.000 Medien und 24.159 Besuche für 2019 zeigten zumindest die Bedeutung für die Bildung, so Schürmann. „Die Nähe macht dabei viel aus: Viele kommen hier zu Fuß vorbei oder mit dem Fahrrad. Ein Ticket zum Medienhaus in der Innenstadt können sich die Besucher oft nicht leisten.“
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Nicht weniger wichtig sei aber der soziale Treff „Stadtteilbibliothek“. Schürmann ist verwundert, dass CDU und Grüne vorgeschlagen haben, anstelle der Stadtteilbibliotheken doch OGS-Räume einzurichten: In Styrum passe es zumindest nicht: Man baue doch gerade die nahe Grundschule aus und werde danach die aktuell für die Grundschule genutzten Container als Räume der Gesamtschule beibehalten.
Ehrenamt kann Fachkräfte nicht ersetzen
Dass man die Arbeit der ältesten Mülheimer Stadtbibliothek durch kostengünstige Ehrenamtler ersetzen könne, weist auch der Freundeskreis der Stadtbibliothek in aller Deutlichkeit zurück: „Das ist eine absurde Forderung. Da gibt es offensichtlich wenig Informationen, was eine ausgebildete Fachkraft leistet und welche Aufgaben sie hat“, kritisiert die Vorsitzende Brigitte Jaenigen.
Und verweist zudem auf das Kulturgesetzbuch NRW. Dort werde gefordert, dass Stadtbibliotheken hauptamtlich zu führen und bibliothekarisches Fachpersonal zu beschäftigen seien.
Stetig wachsende Zahlen an Ausleihen und Besuchern hat übrigens nicht nur Styrum vorzuweisen. Auch Speldorf ist stetig auf 25.000 Besucher (70.420 Ausleihen) gewachsen, Heißen auf 26.394 Besucher (72.565 Ausleihen) und Dümpten auf sogar 35.022 (54.102 Ausleihen).
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Spart man funktionierende Strukturen kaputt?
Für die Opposition ist die Streichung in den Stadtteilen schon deshalb unbegreiflich: „Mich hat der Vorschlag von CDU und Grünen schockiert. Man sieht doch, dass die Mitarbeiter einen guten Job machen und die Stadtteilbibliotheken kein Auslaufmodell sind, sonst würden gerade die Besuche nicht stetig steigen“, stellt Sascha Jurczyk, SPD-Ortsvereinsvorsitzender in Styrum, fest.
Seine Befürchtung: Die Stadtteilkunden werden nicht in die Stadtmitte mitziehen – schon mittelfristig wird ein gut funktionierendes Angebot abgebaut. Und: „Büchereien demokratisieren das Wissen“, sorgt sich der SPDler um schwindende Bildungschancen.
Reichen überhaupt die Kapazitäten im Medienhaus?
Aus Sicht des Freundeskreis der Stadtbibliothek bestehen noch ganz andere Bedenken: die verbleibende Kapazität. Brechen die Stadtteile weg, wäre es für die einzige Mülheimer Stadtbibliothek in der Innenstadt „nicht mehr machbar, alle Kita-Kinder und Schüler durch Führungen, Anleitungen, Veranstaltungen und Aktionen an das Angebot des Medienhauses heranzuführen“, wendet Brigitte Jaenigen ein.
Styrum hat die älteste Stadtbibliothek Mülheims
Auch das vor Jahren entwickelte Handlungskonzept für Styrum hat die „wechselvolle Geschichte“ und den Aufgabenbereich der Schul- und Stadtteilbibliothek Styrum hervorgehoben, die seit mehr als 75 Jahren besteht. Dort heißt es:
„Zunächst in zwei Räumen des Styrumer Rathauses untergebracht, dann im Nebenraum einer Gaststätte, danach in den Räumen des städtischen Jugendheims und Mitte der 1960er Jahre an der Oberhausener Straße/Ecke Zastrowstraße, fand die älteste Stadtbibliothek Mülheims 1988 in der Willy-Brandt-Schule auf rund 600 qm ihr aktuelles Domizil.
Die großzügige Räumlichkeit und insbesondere das Fachpersonal sichern eine intensive Zusammenarbeit mit allen Schulen und Kitas im Stadtteil. Die Bibliothek bildet einen wichtigen Baustein im Styrumer Netzwerk und ist an allen wesentlichen Veranstaltungen kooperativ und initiativ beteiligt. Außerdem werden eigene Veranstaltungen insbesondere für Senioren und Einwanderer angeboten.“
Auch Arbeitsplätze für Schüler und Studenten gäbe es dann nicht mehr genug. Die Folge? „Die Kooperationen könnten so nicht mehr aufrechterhalten bleiben“, beschwört Jaenigen und mahnt die Streichungen in der Vergangenheit an: Etwa 110.000 Euro und 1,6 Stellen baute die Politik bereits 2019 unter anderem im Medienhaus zugunsten des Haushalts ab, auch der Bücherbus und drei Stadtteilbibliotheken fielen dem Rotstift in der Vergangenheit zum Opfer.
Freundeskreis sieht Widerspruch im Koalitionsvertrag
Was im aktuellen Koalitionsvertrag von Schwarz-Grün als Ziel beschrieben wird, mag manchem folglich widersprüchlich oder gar zynisch erscheinen: „Kulturangebote möglichst barrierefrei und für alle Gruppen der Bürgerschaft zugänglich und auch verkehrstechnisch gut erreichbar machen.“ Und: „Die Kooperation zwischen Schulen und Kultureinrichtungen, wie sie bereits im Medienhaus, im Kunstmuseum oder beim Theater an der Ruhr existiert, verstärkt fördern und ausbauen.“
Für Jaenigen zeichnet sich dagegen etwas anderes ab: „Das kann man nicht unter ,Erhalt der Strukturen’ verstehen, das ist ein ,Ausbluten der Kultur’, denn gut funktionierende Kultureinrichtungen werden abgeschafft.“