Mülheim. Die Zahl der psychisch Erkrankten ist stark gestiegen, sagt ein Mülheimer Therapeut. Warum es jetzt wichtig ist, soziale Kontakte zu pflegen.
Die Corona-Krise ist für viele Menschen auch eine psychische Belastung. Wir sprachen mit dem Mülheimer Sozialarbeiter und Psychotherapeuten Lutz Gierig über die seelischen Auswirkungen der Pandemie, wie Strukturen helfen, sie zu überstehen und über die mögliche Entlastung an Weihnachten.
Welchen Einfluss haben die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Menschen?
Lutz Gierig: Die Corona-Krise hat uns zur Zeit fest im Griff und dies in vielfacher Art und Weise: Wir erleben gegenwärtig parallel sowohl eine umfassende Gesundheitskrise als auch eine weltweite Wirtschaftskrise. Normalerweise sind wir gewohnt, zur Erhaltung und Stabilisierung der körperlichen und psychischen Gesundheit Kontakte zu pflegen und Nähe zu erfahren, aber gerade das ist zur Zeit nur unter erheblichen Einschränkungen machbar, damit wir gemeinsam die Krise bewältigen können. Außerdem erfahren wir gerade eine noch nie dagewesene, teilweise irritierende mediale Informationsflut. Keine Stunde vergeht ohne Zahlen und Regeln zu Corona.
Mülheimer Psychotherapeut: Corona verschärft die gesellschaftliche Situation
Was macht das mit den Menschen?
Das bedeutet auch Verunsicherung und Angst, nicht nur für die Patienten im Krankenhaus, sondern für fast alle Menschen. Darüber hinaus neigen in der dunklen Jahreszeit ohnehin eine erhebliche Anzahl von uns häufiger zu Schwermut und ziehen Jahresbilanz. Insgesamt verschärft Corona die gesellschaftliche Situation, wie wir dies bereits vor der Pandemie auch schon kannten. Mehr und mehr Menschen rutschen in prekäre Lagen ab. Denken wir an Kurzarbeit und Geschäftsaufgaben.
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Könnte der Zwang zur sozialen Distanzierung auch zu entspannten Feiertagen beitragen?
Sicher zeigt uns die Corona-Pandemie, dass vieles, was wir für selbstverständlich gehalten haben, keineswegs selbstverständlich ist. Gerade die Überfrachtung des Weihnachtsfestes, welches häufig mit unrealistischen Wünschen und Erwartungen einhergeht, hat ja in der Vergangenheit oftmals den gegenteiligen Effekt gehabt und für zusätzliche Spannungen gesorgt, die dann nicht selten in eskalierende Konflikte gemündet sind. Hier wäre wichtig, die anstehenden Feiertage mit allen Beteiligten gut vorzubereiten und für sich selbst Auszeiten einzuplanen.
Lehrt uns die Corona-Krise, dass weniger mehr ist ?
Ich möchte nicht zynisch klingen. Denn die sozialen und wirtschaftlichen Ängste, die noch zusätzlich durch Corona verstärkt worden sind, darf man nicht wegdiskutieren, so nach dem Motto „Eine Krise ist immer auch eine Chance.“ Und man sollte sie auf keinen Fall verharmlosen. Aber vielleicht lernen wir in der aktuellen Situation, dass wir viele Dinge, für die wir bisher viel Zeit, Geld und Arbeit investiert haben, gar nicht benötigen, um ein für uns gutes und erfülltes Leben zu führen.
Soziale Kontakte in der Zeit der Distanzierung pflegen
Aber die jetzt eingeschränkten Kontakte brauchen wir, weil wir als Menschen soziale Wesen sind.
Ja, das ist so. Und, so paradox das klingt, sollten wir gerade in einer Zeit der Distanzierung unsere sozialen Kontakte pflegen und nach Möglichkeit intensiv nutzen, weil sie unserem Leben Sinn, Struktur, Halt und ein Gefühl von Normalität geben. Wenn wir uns aber im Moment nicht persönlich treffen können, müssen wir eben über Telefon, Videotelefonie, Mails und Briefe in Kontakt bleiben, um uns gegenseitig zu signalisieren, dass wir auch gerade in der Krise miteinander verbunden sind. So können wir uns gegenseitig stärken und Mut machen.
Warum hat sich die Depression in Deutschland zu einer Volkskrankheit entwickelt?
Dafür wäre eine Vielzahl von Faktoren zu benennen. Unser Leben ist in den vergangenen Jahrzehnten immer schnelllebiger geworden und die Arbeitsverdichtung hat deutlich zugenommen. Zudem sehen wir eine stetig wachsende Single-Gesellschaft. Außerdem erleben immer weniger Menschen Anerkennung, Wertschätzung und Respekt für das was sie tun. Ohne genaue Daten zu kennen, weiß ich, dass die Zahl der psychisch erkrankten Patienten, die wir im St. Marien-Hospital auf gleich mehreren Stationen, in einer Psychiatrischen Institutsambulanz und in einer psychiatrischen Tagesklinik behandeln, in den vergangenen 26 Jahren deutlich gestiegen ist.
Wie können wir als Gesellschaft seelisch stabiler werden?
Wir brauchen nicht nur Hilfsangebote, sondern wieder mehr Aufmerksamkeit und Respekt in allen Lebensbereichen. Auch müssen wir selber bewusster mit uns umgehen, uns mehr Auszeiten gönnen, um unsere Energie zu erhalten. Gerade jetzt in dieser Zeit der eingeschränkten Kontakte sollten wir unserem Tag eine selbstbestimmte Struktur geben und feste Zeiten für all das einplanen, was wir selbst tun können, etwa lesen oder Musik hören, etwas kochen, erweiterte Spaziergänge unternehmen und vor allem Geduld und Ruhe bewahren.