Mülheim. Von den Geflüchteten, die seit 2015 nach Mülheim gekommen sind, sind rund 40 Prozent Frauen. Was haben sie geschafft? Wie leben sie heute?
„Da kommen ja nur Männer“, hieß es 2015/16 in der Hochphase der Flüchtlingswelle. Das mag damals gestimmt haben, heute ergibt sich anhand der Zahlen jedoch ein anderes Bild: 40 Prozent der Geflüchteten, die in den letzten fünf Jahren in Mülheim Zuflucht suchten, sind weiblich – darunter erwachsene Frauen (59 Prozent), aber auch viele Mädchen unter 18 Jahren (41 Prozent). Wie leben sie?
Viele Frauen trauten sich nicht, die Unterkunft zu verlassen
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„Es hat nach 2016 viel Familiennachzug gegeben“, sagt Saskia Trittmann, Flüchtlingsreferentin des evangelischen Kirchenkreises an der Ruhr. Viele Frauen und Kinder seien – beispielsweise in der Türkei – „geparkt“ gewesen und ihren Männern mit Zeitverzug nach Deutschland gefolgt. „Der öffentliche Eindruck, die Geflüchteten seien fast ausschließlich Männer, mag aber auch entstanden sein, weil die Männer sofort mehr rausgegangen sind, während viele Frauen sich nicht getraut haben, die Unterkunft zu verlassen.“
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Eins ist schnell klar geworden: „Die Gruppe der geflüchteten Frauen ist heterogen. D-i-e geflüchtete Frau gibt es nicht, noch nicht einmal d-i-e eritreische, syrische oder iranische Frau. Die Geflüchteten stammen aus unterschiedlichen Gesellschaften, aber auch aus verschiedenen familiären Zusammenhängen“, erklärt Saskia Trittmann. Auch die Integrationsfähigkeit sei daher verschieden, sie hänge unter anderem von den gesellschaftlichen Regeln im Heimatland, vom Bildungsgrad, von der psychischen Verfassung ab. „Manche warten ab, andere geben gleich Gas. Wer zuhause gearbeitet hat, wird in der Regel hier schneller aktiv.“
Viele brauchen Heilung der Seele
„Viele Frauen haben zuhause und auf der Flucht Schlimmes erlebt, sind traumatisiert, brauchen Zeit und Ruhe – und Heilung der Seele“, so Trittmann. Wo und dass sie sich Hilfe suchen können, ist ihnen meist unbekannt. „Viele Geflüchtete wissen gar nicht, was ein Psychologe ist“, hat Annette Cordes, ehrenamtliche Flüchtlingshelferin, erfahren. Nach den Monaten oder Jahren der räumlichen Trennung stelle sich manchmal auch die Frage: Geht das noch mit der Ehe? Funktionieren wir noch als Familie? Eine Rolle spielt immer auch die Trauer - über das, was zurückgelassen werden musste und das, was in Deutschland nicht geht oder zählt (etwa die Zeugnisse). „Die gut ausgebildete Lehrerin muss hier wieder von 0 anfangen“, das ist nur ein Beispiel von vielen frustrierenden Problemstellungen.
Saadia Ibaoune, Ehrenamtliche beim CBE und lange Leiterin eines MUt-Cafés, weiß aber: „Die meisten Frauen wollen sich integrieren, lernen schnell Deutsch, organisieren ihr Leben.“ Dabei ist das Ankommen in Deutschland eine große Herausforderung: eine neue Sprache, andere Spielregeln in der Gesellschaft, andere Rollenbilder (von Mann und Frau), neue familiäre Anforderungen, eine neue Berufsausrichtung. Hinzu kommt: Die komplexe deutsche Bürokratie ist sehr schwer zu verstehen – auch für die deutschen Ehrenamtler. In der Behörde, so die Erfahrung deutscher Ehrenamtler, stoßen Geflüchtete nicht immer auf Verständnis und kreative Hilfe – was an der Vielzahl der Fälle und an der sich oft ändernden Gesetzgebung liegen mag. Ohne ehrenamtliche Hilfe ginge es vielfach nicht weiter.
Jobs in der Pflege, im Verkauf, im Handwerk
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Viele Flüchtlingsfrauen schultern eine Mehrfachbelastung. „Sie müssen viel managen. Es ist ja eigentlich schon so eine große Leistung, wenn eine Frau mit kleinen Kindern, die in einem unbekannten Land und ganz beengten Verhältnissen lebt, einen Integrationskurs besucht und dann auch noch Zeit zum Lernen findet“, sagt Saskia Trittmann. Dennoch haben es viele geschafft, sie arbeiten meist im Handwerk, in der Pflege, im Verkauf, manche zum Beispiel auch als Sprachlehrerinnen. Andere widmen sich dagegen aus Tradition oder aus eigenem Wunsch ganz der Familie.
Nicht jede geflüchtete Frau ist aus deutscher Sicht hier in ein anderes Leben gestartet. So gab es 2015/16 junge Mädchen, die mit den Eltern herkamen und sofort mit einem unbekannten geflüchteten Mann ihrer Nationalität verheiratet wurden. Andere sitzen nur zuhause, telefonieren mit Verwandten in der Heimat und gucken Fernsehprogramme in ihrer Sprache. Aber: Wieder andere haben wie Noura Alhasan ein Super-Abitur hingelegt (wir berichteten) oder sich wie Sarah Alalwan einen Studienplatz (für Bauingenieurwesen) hart erarbeitet (wir berichteten). „Die Frauen, die ein Studium anstreben oder machen sind hochmotiviert und oft erfolgreicher als die Männer – obwohl das Studium eine familiäre und finanzielle Herausforderung für sie ist“, berichtet Dr. Julian Rytz, Leiterin des Studienintegrationsprogramms an der Hochschule Ruhr-West.
Erst Analphabetin, jetzt in Ausbildung
Geflüchtete Frauen, die auf die eine oder andere Weise angekommen sind in Mülheim, gibt es nicht wenige. Zum Beispiel Zohra (Name geändert), die eine ganz erstaunliche Biografie hat. 2015 kam sie mit Angehörigen nach Deutschland, damals war sie 15 – und Analphabetin. Ihre Familie gehörte zur unterdrückten afghanischen Minderheit im Iran. Zohra besuchte die Integrationsklasse an der Lehnerstraße, machte am Berufskolleg an der Von-Bock-Straße den Hauptschulabschluss. „Das war nicht leicht, Deutsch ist schwer und Mathe nicht mein Fach“, berichtet sie. Hinzu kam, dass sie sehr häufig ihre kranke Mutter pflegen musste.
„Den Abschluss zu erlangen, war ein sehr gutes Gefühl“, erklärt Zohra. Jetzt macht sie eine Ausbildung zur Altenpflegehelferin. Ihren Bildungsweg startete das junge Mädchen trotz Widerständen. Ihr Bruder hatte ihr verboten, einen Deutschkurs zu belegen. „In unserem Land bleiben Frauen zu Hause und haben Kinder“, sagt die jetzt 20-Jährige. Sie hielt sich nicht an das Verbot.
„Zohra hat einen starken Willen und ganz viel Mut. Sie hat so viel hingekriegt“, findet Flüchtlingshelferin Annette Cordes, die bei Problemen immer weiterhalf. Die junge Frau will weitere Zeile erreichen: ihre Ausbildung beenden, arbeiten, den Führerschein machen, eine eigene Wohnung beziehen, einen Selbstverteidigungskurs besuchen. Mit Freunden erkundet sie gerne andere Städte in der Umgebung.
Zohra sei ein gutes Bespiel „für Neu-Deutsche, die einen Teil ihrer Heimatwelt leben, aber versuchen, die neuen Möglichkeiten, die Deutschland bietet, in Lebensgestaltung und Weltsicht zu integrieren“, meint Saskia Trittmann. „Von Deutschen werden sie dazu ermutigt, von Menschen aus ihrer Herkunftskultur leider oft nicht.“ Das macht es so schwierig, gerade für die Frauen.
Zwei Kinder und Teilzeit-Ausbildung
Viel geschafft hat auch Senait (Name geändert), die 2015 - hochschwanger - mit einem kleinen Holzboot übers Mittelmeer gekommen ist. Arztbesuche, Anmeldung in der Klinik, Entbindung – alles in völlig fremder Umgebung. Mit dem Baby im Arm besuchten die Eritreerin mit ihrem Mann noch im Flüchtlingsheim den ersten Deutschkurs. Ein herber Rückschlag war, dass keins ihrer Zeugnisse aus dem Herkunftsland anerkannt wurde. Dort hatte sie als Mathematiklehrerin gearbeitet. Der Wunsch, in Deutschland zu arbeiten, blieb.
Heute, fünf Jahre nach dem Zuzug, hat die junge Mutter, dank ehrenamtlicher und amtlicher Hilfe, eine Teilzeitausbildung im Verkauf begonnen, ihre zwei Kinder haben einen Kita-Platz. Wie schwer es werden wird, eine 30-Stunden-Woche mit zwei Kindern und ohne Rückhalt durch Familie zu vereinbaren, das kann wohl jede andere Mutter nachvollziehen.
Kontakt zu deutschen jungen Frauen fehlt
Eins gilt für beide geflüchtete Frauen: Deutsche Freundinnen in ihrem Alter haben sie noch nicht gefunden, sie treffen sich mit andere Geflüchteten. Vielleicht klappt es ja jetzt in Ausbildung, Berufsschule, Kita mit dem Anfreunden. Saadia Ibaoune, die langjährige MUT-Café-Leiterin kommentiert: „Dazu gehört Offenheit – auf beiden Seiten“. Es wäre schön, wenn diese „Verschwisterung“ gelänge – das wäre ein weiterer Schritt der Integration.