Mülheim. Als der Flüchtlingsstrom im August 2015 Mülheim erreichte, mussten Stadt und Hilfsorganisationen rasch handeln. Schnelle Integration war das Ziel.

Fünf Jahre ist es her, dass hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland strömten. Rund 2500 von ihnen kamen nach Mülheim. Wer ist geblieben, wie haben sich die Geflüchteten integriert, was haben sie in den vergangenen fünf Jahren an der Ruhr erlebt, was taten die vielen Helfer – diese Fragen wollen wir in einer Serie in den nächsten Wochen beleuchten.

Innerhalb von 24 Stunden haben wir für das Land eine Erstaufnahmeunterkunft in Betrieb genommen. Um 90 Personen in der Sporthalle Lehnerstraße zu versorgen, haben damals alle in den Ämtern und Hilfsorganisationen toll mitgezogen. Danach erreichte die Flüchtlingswelle Mülheim. Fast täglich kam ein Bus mit Menschen an, die eine Bleibe brauchten.“ Thomas Konietzka, Leiter des Sozialamtes, erinnert sich an den Tag Anfang August 2015, ab dem er und seine Kollegen mengenweise Aufgaben stemmen mussten. „Es gab viele Krisenstabssitzungen und neue Anweisungen vom Land, wie die Aufnahme der Geflüchteten zu regeln sei. „Wir haben es geschafft, den Menschen ein lebenswertes Zuhause auf Zeit zu geben. Fast alle leben heute in eigenen Wohnungen und sind integriert. Alle haben die Chance auf Ausbildung und Arbeit bekommen“, bilanziert Konietzka.

Die Mülheimer Stadtverwaltung stand unter Zugzwang

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31. August 2015 zur Bewältigung der Flüchtlingskrise auf einer Pressekonferenz ihren bekannten Satz sagte: „Wir schaffen das“, hatten bereits 1143 Geflüchtete die Stadt an der Ruhr erreicht. Bis Ende 2015 sollte sich ihre Zahl verdoppelt haben.

Asylbewerber stellten damals rund 1,25 Prozent der Stadtbevölkerung, das geht aus den Erfassungszahlen des Sozialamtes hervor. „Seit März 2015 sind 3541 nach Mülheim gekommen. Etwa zwei Drittel sind geblieben“, erläutert Patrick Turnbach vom Leitungsstab des Sozialamtes. „Von ihnen sind 40 Prozent weiblich, 60 Prozent männlich.“ Davon gehörten 20 Prozent zur Altersgruppe 18 bis 25 Jahre. Im November 2019 erreichten elf Geflüchtete die Stadt. Danach gab es bis nur noch im März 2020 eine Zuweisung, wie es im Amtsdeutsch heißt.

Die Stadtverwaltung stand unter Zugzwang, „weil uns die zuständige Bezirksregierung Arnsberg täglich neue Flüchtlinge zuwies, die wir aufzunehmen hatten“, beschreibt Thomas Konietzka. Der Krisenstab ermittelte Standorte für Sammelunterkünfte. Die Ratsgremien mussten die Eilanträge genehmigen – oft mit Ohnmacht. Es folgten emotionsgeladene Bürgerversammlungen. Baugenehmigungen wurden im Schnellverfahren erwirkt.

Keine Provisorien, sondern menschenwürdiges Wohnen

Ende Oktober eröffnete das Flüchtlingsdorf auf dem Saarner Kirmesplatz unter Regie des Mülheimer Roten Kreuzes. Das zweite Dorf an der Holzstraße in Broich folgte Anfang 2016. Dort übernahmen die Johanniter Betreuung und Betrieb. Damit standen rund 1000 Plätze für Geflüchtete bereit.

Für die Unterbringung der Flüchtlinge in stabilen Holzhäusern erhielt Mülheim bundesweit Lob. Einige Ortspolitiker werteten die Bauten als zu teuer. Die Kosten für Holz- und Mintarder Straße beziffert der Immobilienservice mit 11,3 Millionen Euro. Örtliche Entscheidungsträger wollten keine Provisorien, sondern menschenwürdige Wohnbereiche. In der Nachbarstadt Essen wurden große Lager mit festen Zelten errichtet.

Betreuung der Familien läuft noch immer

Im November 2015 musste die Stadt 431 Asylsuchende aufnehmen. Nach dieser Spitze sanken die Zuteilungsquoten wieder. Im Januar 2016 waren es 360 Personen, im Februar 91. Trotzdem brauchte die Stadt weitere Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten. „Unser Ziel war es, die Menschen möglichst schnell aus dem Sammelunterkünften auf die Stadt zu verteilen und ihnen eigene Wohnungen zu geben. Das ist der beste Weg zur Integration“, beschreibt Andrea Reuschel.

Die Betreuerin vom kommunalen Beratungsdienst für Geflüchtete war bereits 2016 im Wohnheim am Kuhlendahl im Einsatz. „Heute helfen wir in den verbliebenen Gruppenunterkünften. Wir beraten ebenfalls Familien in ihren Wohnungen. Die meisten sind bereits gut in die Hausgemeinschaften Integriert.“

Einige Nachbarn fühlten sich bedroht

Vor viereinhalb Jahren bildeten Geflüchtete erste Wohngemeinschaften an der Gustavstraße in Styrum und der Schillerstraße im Dichterviertel. Diese Plätze reichten noch nicht. An der Hofstraße, am Klöttschen, an der Oberheid- und Schumannstraße mietete die Stadt Wohnungen, baute Gebäude um oder weitere Holzhäuser – nicht überall zur Freude der Nachbarn.

Einige fühlten sich von Flüchtlingen bedroht. Es kursierten Gerüchte, was alles im Einzugsbereich der Unterkünfte passiert sei. Die mehr als 150 leeren Geldbörsen, die angeblich einen Saarner Kanal verstopft haben sollten, wurden nie gefunden. „Ja, es gab einige, die sich falsch verhalten haben. Die waren schnell wieder weg“, blickt Thomas Konietzka zurück. Die Ausländerbehörde habe da konsequent reagiert.

500 Plätze in Unterkünften sind wieder abgebaut

Bei der stets favorisierten dezentralen Unterbringung der Flüchtlinge haben die „beiden Wohnungsgesellschaften MWB und SWB, private Vermieter und weitere Stellen die Stadt sehr unterstützt“, erläutert Patrick Turnbach. Bis Ende 2019 wurden 500 Plätze wieder abgebaut, die Unterkünfte an Kolonie-, Vereins- und Eltener Straße sowie die Flüchtlingsdörfer in Broich und Saarn wieder geschlossen.

Nach dem aktuellen Berechnungsstand für die Flüchtlingsaufnahme muss Mülheim 550 Personen aufnehmen. Davon sind bereits 514 erfasst. Bleibt noch eine Aufnahmeverpflichtung von 36 Personen. Die Belegungsquote der verbliebenen städtischen Unterkünfte liegt bei knapp 80 Prozent.

Die Kosten für Unterkünfte sinken

Pro Tag kosten Versorgung und Wohnen für eine Person elf Euro. Nur für die Unterbringung der Asylbewerber hat die Stadt in den letzten fünf Jahren im Schnitt 6,2 Millionen Euro bezahlt. Dieser Betrag ist kontinuierlich gesunken. In 2019 waren es noch 4,8 Millionen Euro.

445 Personen leben aktuell in Wohnungen, verteilt auf zehn Stadtteile. Dabei stehen Saarn (17), Speldorf (16) und Holthausen (2) am Ende der Liste. „Das liegt an den hohen Mieten. Die Stadt zahlt keine Mondpreise“, stellt Konietzka klar.

„Wir steigen wieder mit voller Kraft ein.“

Die „hochgradig brisante Lage in den Krisengebieten lässt keine genaue Einschätzung zur Entwicklung der Flüchtlingszahlen zu“, heißt es im jüngsten Lagebericht der Sozialverwaltung. „Wir brauchen auch noch Unterkünfte, weil nicht alle Geflüchteten so schnell eine eigene Wohnung bekommen“, sagt der Leiter des Sozialamtes.

Und wenn der Flüchtlingsstrom wieder anschwillt? Thomas Konietzka antwortet prompt: „Dann steigen wir wieder mit voller Kraft ein. Alle Beteiligten sind mit den Auswirkungen dieser Krise gewachsen und haben professionelle Lösungen erarbeitet. Wir wissen jetzt, was zu tun ist. Es hat sogar Spaß gemacht.“

Kinder und Jugendliche lernen schnell Deutsch

Alle schulpflichtigen Flüchtlingskinder besuchen den Unterricht und erhalten Förderstunden. „Bei den Zuweisungen haben wir von der Bezirksregierung in Arnsberg alle Personendaten bekommen. Daher wussten wir, wer in die Schule muss“, erläutert Sozialamtsleiter Thomas Konietzka. „Wir haben versucht, die Kinder möglichst nahe ihres Wohnortes in die Schulen zu schicken. Das ist nicht in allen Fällen gelungen.“

Verteilung nach „Königsteiner Schlüssel“

Nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe sind aktuell knapp 71 Millionen Menschen auf der Flucht. Das sind so viele wie rund 90 Prozent der Bewohner Deutschlands. Nach Prognosen der Vereinten Nationen wird diese Zahl weiter wachsen. Ursachen sind Kriege, Hungersnöte, politische Verfolgung, Bildungsmangel, Arbeitslosigkeit und Einkommensverluste.

Die Geflohenen werden in Deutschland nach dem so genannten „Königsteiner Schlüssel“ (Bevölkerungszahl, Steueraufkommen) auf die Bundesländer verteilt. Diese sind in der Erstunterbringung für die Registrierung und sonstige Versorgung zuständig. An der Turnhalle Lehnerstraße existierte rund ein Jahr lang die Erstaufnahme des Landes Nordrhein-Westfalen.

Von dort weisen die Bundesländer den Städten die Menschen zu – zur Unterbringung und Versorgung auf kommunaler Ebene. Von den Flüchtlingen, die in NRW angekommen und registriert sind, wird ein Prozent Mülheim zugewiesen. Die Stadt hat ebenfalls eine zentrale Aufnahme im Saarner Flüchtlingsdorf eingerichtet, die inzwischen zum Klöttschen umgezogen ist. Von dort gelangten die Menschen in andere Unterkünfte und Wohnungen.

Als das Deutsche Rote Kreuz noch den Betrieb im Saarner Flüchtlingsdorf organisierte, gab es für Kinder dort nachmittags Sprachunterricht, Förderstunden und Hausaufgabenbetreuung – oft von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern übernommen. Mit den Grundschulen und der Gesamtschule bestanden enge Kontakte. „Die meisten Kinder und Jugendlichen haben die deutsche Sprache schnell gelernt“, weiß die Beraterin Andrea Reuschel.

„Bei der offenen Ganztagsbetreuung ist es schwieriger, weil dort immer noch Plätze fehlen – wie für heimische Kinder. Dabei ist die Hausaufgabenhilfe mit gleichzeitiger Sprachförderung in Deutsch in den international gemischten Gruppen für Schülerinnen und Schüler wichtig, um sich leichter zu integrieren“, sagt Reuschel. Je länger die Kleineren nicht zu Hause seien, desto besser lernten sie mit ihren deutschen Freundinnen und Freunden die Sprache.

Noch besser funktioniere die Integration der Kleinsten. „In den Nestern hören Mädchen und Jungen in den ersten Lebensjahren Deutsch und sprechen es schnell nach“, sagt Reuschel. Sprachkenntnisse und gute Schulbildung könnten alle geflohenen Kinder und Jugendlichen bekommen. Das eröffne ihnen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Viele Kinder redeten bereits akzentfrei.