Mülheim. Anderswo schon ausgestorben: Seltene Wildpflanzen gedeihen prächtig auf Mülheimer Friedhöfen. Botanikerin: Rote Liste muss neu bewertet werden.
Die Bedeutung der Mülheimer Friedhöfe bezieht sich nicht allein auf
Fragen der Beisetzung in Zeiten, in denen weniger Friedhofsfläche benötigt wird. Auch der soziale, kulturelle und ökologische Nutzen für die Stadtgesellschaft ist immer wieder ein Thema. Eine botanische Untersuchung aller Mülheimer Friedhöfe brachte nun Erstaunliches zutage: Es gedeihen dort sogar Wildpflanzen, die anderswo im Ruhrgebiet als ausgestorben gelten. Die Mülheimer Friedhöfe bieten eine immense Artenvielfalt.
Auf den Mülheimer Friedhöfen wächst fast jede fünfte Art, die es in NRW gibt
Die Botanikerin Corinne Buch von der Biologischen Station Westliches Ruhrgebiet in Oberhausen hat im Auftrag der Stadt Mülheim die Wildpflanzen auf den zwölf Mülheimer Friedhöfen im vergangenen Jahr unter die Lupe genommen und kartiert. Ihr Fazit, das sie den Politikern jetzt im Umweltausschuss vorstellte: Die biologische Vielfalt auf den Friedhöfen ist enorm. Allein 131 verschiedene Wildpflanzen fand Botanikerin Buch auf dem nur einen halben Hektar kleinen Friedhof in Holthausen am Witthausbusch; 239 verschiedene Pflanzenarten waren es auf dem mit fast fünf Hektar viel größeren Altstadtfriedhof. 349 verschiedene Pflanzenarten entdeckte Corinne Buch bei ihrer Untersuchung insgesamt. „Auf den Mülheimer Friedhöfen wächst fast jede fünfte Art, die es in NRW gibt“, so ihr Fazit.
Friedhöfe sind Oase und Rückzugsort für gefährdete Pflanzen
Die Flächen mitten in der Stadt sind sogar Oase und Rückzugsort für gefährdete Pflanzen, die Botaniker anderswo vergebens suchen. Das „Bunte Vergissmeinnicht“ oder der „Knollige Hahnenfuß“ sind vielleicht keine Pflanzen, die der Laie beim Spaziergang sofort erkennt, aber Botaniker wissen, dass diese Arten selten und hoch gefährdet sind - aber auf Mülheimer Friedhöfen findet man sie, wie Corinne Buch berichtet. Sie kann sich über das Frühlings-Fingerkraut, ein unscheinbares Pflänzchen mit gelben Blüten, geradezu begeistern: „Es gilt im Ruhrgebiet als ausgestorben“, so Buch. Aber auf gleich vier Mülheimer Friedhöfen wächst es dennoch, ganz unbekümmert. „Das war mein erstes Highlight.“
Das „Gewöhnliche Filzkraut“ gedeiht in Mülheim bestens
Friedhöfe sind meist alte Grünflächen, erklärte die Botanikerin, sie haben die Weltkriege und die Industrialisierung überlebt. Pflanzen aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert haben möglicherweise dort eine ungestörte Nische gefunden. Das „Gewöhnliche Filzkraut“ gehört auch dazu. „Das gilt im Ruhrgebiet als ausgestorben – es wächst aber auf dem Friedhof in Styrum“, berichtet Corinne Buch. Ihr Fazit: „Die Arten müssen auf der Roten Liste neu bewertet werden.“
Nicht nur für die Pflanzen sind kleinteilige Bereiche auf Friedhöfen lebenswichtig, wie der so genannte Magerrasen – auch Wildbienen fühlen sich dort wohl, betont die Expertin. „Da ist ganz viel los auf wenigen Quadratmetern Fläche.“ Auch alte Baumbestände, wie man sie auf den Friedhöfen findet, böten wichtigen Lebensraum für Insekten, Vögel, Fledermäuse. Und natürlich auch für die Menschen, die die Friedhöfe als Orte der Ruhe und der Naherholung vor ihrer Haustür nutzten.
Auch die Tierwelt auf den Mülheimer Friedhöfen soll noch untersucht werden
Für Botanikerin Corinne Buch ist klar, dass diese Artenvielfalt erhalten und gefördert werden muss. Sie empfiehlt unter anderem, heimische Arten wie Hecken, Hainbuchen oder Obstgehölze zu erhalten und auch nachzupflanzen, dafür auf Mulchen, Düngen und Pestizide weiterhin zu verzichten.
Holthausen: 10.631,15 Euro auf dem Spendenkonto
Die Stadtverwaltung lobt den Einsatz der Bürgerinitiative zum Erhalt des alten Friedhofs in Holthausen ausdrücklich. Die engagierten Bürger haben Spenden für die Pflegekosten – pro Jahr 10.000 Euro – eingeworben. Zum 4. Januar 2020 waren 10.631,15 Euro auf dem Spendenkonto.
Matthias Meyer von der Bürgerinitiative sah den Einsatz der Bürger für den Friedhof durch das botanische Gutachten bestätigt. Er schätzt, dass die Spendenbereitschaft für die Pflegekosten weiterhin anhält. Die Bürger haben an den Eingängen des Friedhofs Infozettel platziert.
Spendenkonto der Stadt Mülheim: Sparkasse Mülheim, IBAN- Nummer: DE78 3625 0000 0300 0001 00, Kassenzeichen (für den Friedhof Holthausen): 9900000003792.
Das Ergebnis der Studie, der unvermutete Artenreichtum, überraschte die Umweltpolitiker aller Fraktionen positiv. Für die Verwaltung ist die Untersuchung der Artenvielfalt von Bedeutung, um die künftige Pflege in den Peripheriebereichen anzupassen, damit diese auch erhalten bleibe, erklärte Umweltdezernent Peter Vermeulen im Ausschuss. „Wir kommen noch zu einer Untersuchung der Fauna“, kündigte er eine besondere Kartierung der Tierwelt auf den Mülheimer Friedhöfen an.
Friedhöfe haben in der Stadtlandschaft nicht nur als Trauerort und Rückzugsort Bedeutung, sondern auch in Sachen Klimaschutz, Artenvielfalt und Insektenschutz, betont Sylvia Waage, Leiterin des Amts für Grünflächenmanagement und Friedhofswesen. „Friedhöfe sind Rückzugsgebiete für die Pflanzen- und Tierwelt.“ Das Ergebnis der Untersuchung werde bei der Umsetzung des Friedhofsentwicklungskonzepts berücksichtigt. „Wir wissen, dass die Friedhöfe hochwertig sind“, sagt Waage. „Das ist auch ein Pfund, mit dem man als Stadt wuchern kann.“