Essen. Sie sind zu Hause abgehauen, übernachten manchmal im Freien und haben oft einen gemeinsamen Wunsch: ein geregeltes Leben. Jenni (17) und Samit (29) berichten vom Leben auf der Straße und warum sie ihr Zuhause verlassen haben. Rund 160 Jugendliche leben in Essen auf der Straße.

Jenni ist abgehauen, da war sie gerade einmal 14 Jahre alt. „Ich wollte mir das alles nicht mehr geben“, beschreibt die 17-Jährige heute ihre damalige Situation. Ihr Zuhause, das war bei ihrer Oma. Genommen hat es ihr ein Angehöriger, „der mich misshandelt hat“. Irgendwann wollte sich Jenni das nicht mehr gefallen lassen, hat eine Woche auf der Straße gelebt, kommt seitdem nachts in Notschlafstellen unter.

Draußen, sagt Jenni, „da musst du Ansagen machen und dich durchsetzen können.“ Große Fresse eben. Die 17-Jährige wünscht sich sehr eine andere Wohnsituation, „aber nicht das Kinderheim“, wohin das Jugendamt sie stecken wolle. Sie hat das Gefühl, die Mitarbeiter nehmen sie mit ihren Bedürfnissen nicht ernst.

Jenni hat daher nicht gezögert, am bundesweiten Straßenkinderkongress in Berlin teilzunehmen und sich mit anderen Jugendliche an Politik, Ämter, Polizei und Schule zu wenden (siehe Zweittext). Sie fordern Respekt statt Mitleid, unbürokratische Hilfe statt komplizierter Anträge. Sie wollen echte Chancen, Wohnung und Arbeit zu finden. „Ich hoffe, dass wir gehört werden“, sagt sie und teilt die Hoffnung, dass jetzt mit ihnen und nicht über sie gesprochen wird, auch mit Samit.

Letztlich im Wohnheim untergekommen

Der 29-Jährige wünscht sich vor allem, dass Anlaufstellen die Menschen in Not besser informieren. „Ich habe verzweifelt bei allen möglichen Stellen angefragt, wo ich übernachten kann. Keiner konnte mir einen Ort nennen“, erinnert er sich. Er suchte Hilfe, landete auf der Straße. Nun ist er endlich im Wohnheim des CVJM untergekommen.

Raum 58 – ein Zuhause für kurze Zeit


Rund 170 Jugendliche nutzen den Raum 58 jährlich. Ab 21 Uhr öffnet die Notschlafstelle in der Innenstadt. Es gibt ein warmes Essen, eine Waschmaschine, ein offenes Ohr der Mitarbeiter und acht Betten. Vier Nächte können Jugendliche dort anonym bleiben.


Träger der Notschlafstelle sind der Sozialdienst katholischer Frauen und das CVJM-Sozialwerk.

Zu seiner Familie hat der 29-Jährige längst keinen Kontakt mehr. Und spricht auch nicht darüber. Was er will: „Die Dinge wieder in den Griff bekommen.“ Dazu muss er zunächst von Marihuana und Speed weg. „Ich möchte eine Therapie machen und Arbeit finden.“ Und wieder eine eigene Wohnung beziehen. Die letzten Jahre beschreibt Samit als bittere Pille, aber auch als sein Schicksal. „Wer weiß, was jetzt kommt“, schaut er nun optimistisch nach vorn.

Wunsch nach einem geregelten Leben

Wenn Jenni von ihrer Zukunft spricht, dann wünscht sie sich „ein vernünftiges und geregeltes Leben.“ Sie möchte die Schule abschließen und eine Ausbildung zur Kfz-Mechatronikerin machen. Zu ihrer Oma zurück will Jenni zwar nicht, hält aber den Kontakt: „Sie konnte ja nichts dafür, sie war arbeiten.“

Jennis Alltag sieht derzeit so aus, dass „ich gucke wie ich die Stunden rumkriege.“ Sie ist draußen unterwegs, holt Essen von der Tafel, zockt bei einem Freund. Nächstes Jahr aber, wenn sie 18 wird und selbst entscheiden kann wie sie wohnen will, „hoffe ich, dass das vorbei ist“.

Empfang bei Familienministerin Manuela Schwesig

In Essen leben rund 160 junge Menschen zwischen 14 und 21 Jahren auf der Straße. Fünf von ihnen haben sich an der ersten bundesweiten Straßenkinderkonferenz beteiligt. Begleitet wurden sie von Manuela Grötschel und weiteren Mitarbeitern der Notschlafstelle Raum 58, die Mitglied im Verein „Bündnis für Straßenkinder in Deutschland“ ist.

In Berlin haben nach einem Jahr Vorbereitung 120 junge Menschen zwei Tage lang in Gruppen ihre Anliegen an Jugendämter, Politik, Polizei und Ausbildung formuliert, über ihre Situation und Zukunft diskutiert. Das Ergebnis: eine Film- und Fotodokumentation sowie der 13-seitige Forderungskatalog. Diesen werden am 18. November auch einige der Essener an Familienministerin Manuela Schwesig überreichen.

Darin fordern die Jugendlichen, dass Ansprechpartner beim Jugendamt nicht ständig wechseln. Bei der Wohnungssuche wollen sie nicht diskriminiert werden („Wohnraum auch mit Schufa-Eintrag“). Zum Thema Ausbildung: freies Berufsfindungsjahr; im Jobcenter Freundlichkeit und Toleranz und verständliche Anträge.

Weitere Vorschläge sind Gutscheine für Kleider und Pflege sowie begleitete Einkäufe, um besser mit Geld umgehen zu lernen. Beim Schwarzfahren und Lebensmittel-Diebstahl sollten die Strafen milder sein, der Umgang der Polizei respektvoll. Von Einrichtungen und Erziehern fordern sie Offenheit und Fehler machen zu dürfen („Kind sein dürfen“). Schulen sollten Suchterkrankungen thematisieren, „mehr Zeit und Betreuung in Lernprozessen“ ermöglichen. Politik sollte Einrichtungen langfristig fördern, Mitarbeiter wertschätzen, besser bezahlen und kontrollieren und den Jugendlichen nicht das Gefühl geben, nur ein „Kostenfaktor“ zu sein.

Bundestagsabgeordnete haben bereits um Termine mit den Jugendlichen gebeten. In Essen will SkF-Chef Björn Enno Hermans, Film und Forderungen für den Dialog mit Zuständigen der Stadt nutzen.