Mülheim. . Pietro Bazzoli hat als Betriebsratsvorsitzender bei Siemens in Mülheim viele Höhen und Tiefen erlebt. Wir trafen ihn auf einen letzten Kaffee.
Siemens in Mülheim ohne einen Betriebsratsvorsitzenden Pietro Bazzoli? Noch schwer vorstellbar, aber ab heute muss der Betriebsrat am NRW-weit größten Standort des Weltkonzerns ohne die Erfahrung des 49-Jährigen auskommen, der nach 21 Jahren an der Spitze der örtlichen Arbeitnehmervertretung als neuer Geschäftsführer der IG Metall in Bocholt eine neue Herausforderung sucht. WAZ-Redakteur Mirco Stodollick traf ihn auf einen letzten gemeinsamen Kaffee im Betriebsratsbüro an der Rheinstraße.
Wehmut?
Bazzoli: Ja. Ein kleines Beispiel: Ich habe am Mittwoch die neuen Kontaktdaten verteilt. Das haben Kollegen noch mal zum Anlass genommen, Danke zu sagen, zu sagen, wie sie mich wahrgenommen haben. Da sitzt man schon mit einer Träne vorm Bildschirm, wenn man das liest.
Sie haben am 1. September 1985 ihre Ausbildung zum Maschinenschlosser im Betrieb, damals noch die Kraftwerk Union, begonnen. Welche Erinnerung haben Sie an den Tag?
Ich war natürlich nervös, wir waren mit 30 Maschinenschlossern eine der größten Berufsgruppen. Das war ein Abtasten und Beschnuppern. Aber unter jungen Leuten ging das dann relativ schnell.
Was hatten Sie sich damals für Ihr Berufsleben vorgenommen?
Ich hatte keine klare Vorstellung. Es war so: Mein Papa hat bei der Kraftwerk Union gearbeitet. Ich habe zwei Bewerbungen geschrieben, eine für Mannesmann und eine für die KWU, einfach auf Empfehlung von Papa. Mannesmann hat mich abgelehnt, KWU hat mich genommen. Und dann bin ich da reinspaziert. . .
Wie kam es zum Entschluss, im Betriebsrat wirken zu wollen?
Papa hat gesagt: Guck dir mal die Betriebsräte an! Die sind alle relativ alt, die sind alle gesund. Das muss ein Job sein, den du lange machen kannst. Die erste Chance war 1986, für die Jugendvertretung zu kandidieren. 1994 bin ich in den Betriebsrat gekommen.
21 Jahre lang waren Sie nun gar Betriebsratsvorsitzender. Ist es Ihnen möglich, den langen Zeitraum knapp zusammenzufassen?
Es waren turbulente 21 Jahre, die im Rückblick im Nu verflogen sind. Nur, wenn man sich die Zeit nimmt, sich zu erinnern, stellt man fest, wie viele gute Zeiten, schlechte Zeiten, herausfordernde Zeiten es gab. Wie Veränderung sich beschleunigt hat. Dass nun 21 Jahre rum sind, kommt mir so gar nicht vor.
Was war die bitterste Stunde?
1999. Dort hatten wir auch einen Personalabbau von 850 Mitarbeitern. Es gab damals rund 40 betriebsbedingte Kündigungen, obwohl wir auch damals schon einen Blumenstrauß an Maßnahmen hatten, um Menschen am ersten Arbeitsmarkt zu halten, und wir aus meiner Sicht ohne betriebsbedingte Kündigungen hätten auskommen können. Ich erinnere mich an Gespräche mit den einzelnen Kolleginnen und Kollegen, wo es um Familien und Existenzen ging, wo gestandene Facharbeiter und Facharbeiterinnen weinten. Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Das hat mich immer wieder angetrieben: Nie wieder betriebsbedingte Kündigungen!
Was verbuchen Sie, vielleicht auch persönlich, als größten Erfolg Ihrer Betriebsratszeit?
Dass wir als Interessenvertreter einen guten Ruf haben bei den Kolleginnen und Kollegen. Es herrscht ein hohes Maß an Vertrauen und Unterstützung. Ich glaube auch, dass das Management – bei allen Interessensgegensätzen – weiß, dass es einen kompetenten Partner hat, der weiß, was er will.
Wenn Sie noch mal etwas anders machen könnten in Ihrer Betriebsratsarbeit: Was wäre es?
Natürlich hat man, wenn man Ziele erreichen will, eine gewisse Ungeduld. Vielleicht war ich auch in den eigenen Reihen manchmal zu emotional. Aber ich habe diesbezüglich in den ersten Jahren einiges gelernt.
Warum jetzt noch mal der berufliche Wechsel?
21 Jahre ist eine lange Zeit. Meine Tochter ist 21. Da wird einem bewusst, wie lange ich hier die Geschicke leiten durfte. Im Rahmen der Energiewende, mit dem, was wir im Interessenausgleich für den Standort Mülheim vereinbart haben, brauchen wir noch einmal eine Aufbruchstimmung. Wir haben immer auf Jugend gesetzt. Jens Rotthäuser war immer die Perspektive. Mein Alter spielte bei der Entscheidung auch eine Rolle, die Frage: Möchte ich das noch bis zum Rentenalter machen? Dann hätte man für die Jugend eine Tür zugemacht. Ich glaube, dass man selbst nach 21 Jahren etwas festgefahren ist in seiner eigenen Arbeitsweise. Ich bin überzeugt, dass unter der Führung von Jens Dinge anders gemacht werden, weil er aus einer anderer Generation ist. Das wird dem Standort guttun.
Siemens 1985, Siemens 2019: Was ist anders für die Kollegen?
Siemens hat sich komplett gewandelt. Ich finde es spannend, wie sich Siemens in den nächsten zwei Jahren entwickeln wird.
Wir haben oft über Ihre Forderung „Mensch vor Marge“ gesprochen. Jüngst äußerte sich im Gespräch eine Siemensianerin, die den Konzern mit Abfindung verlässt, dass Mitarbeiter für den Konzern nur noch Manövriermasse seien. Gestern noch mächtig reingeklotzt für den Milliarden-Auftrag aus Ägypten, heute aufgefordert zu gehen. Sind die Mitarbeiter nur noch Manövriermasse?
Genau die Tendenz haben wir gesehen, als wir die Forderung „Mensch vor Marge“ aufgestellt haben. Ich glaube, dass wir es im Interessenausgleich gleichwohl ausgewogen hinbekommen haben. Ich kann die Kollegin verstehen, sie spricht Menschen auch hier am Standort aus dem Herzen. Andersherum sage ich aber auch: Dieser Standort kennt den Wandel, die Herausforderung. Die Menschen werden hier nicht müde, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt genauso viele Mitarbeiter, die sagen: Siemens ist ein tolles Unternehmen. Wir haben hier tolle Voraussetzungen. Jetzt muss man den Menschen den Freiraum geben, damit sie ihre Qualifikation auch als PS auf die Straße bringen können.
Nicht wenige fürchten, Siemens mache die Kraftwerkssparte mit dem Stellenabbau nun reif für einen Verkauf nach China. Wie sehen Sie das?
Wenn man sich die Entwicklung ansieht, dass Siemens das Thema Wind mit einem spanischen Anbieter angeht, dazu Mobilität und Alstom sowie die verselbstständigte Medizintechnik an der Börse, scheint das ein Weg zu sein, den Siemens geht. Von daher kann man nichts ausschließen. 1985 habe ich in der Kraftwerk Union angefangen. Da waren wir eine Tochter, das muss nicht das Schlimmste sein. Wichtig ist nur, dass wir die Chance bekommen, unser Geschäft, was im herkömmlichen Sinne nicht mehr wächst, mitzugestalten durch Ideen von Mitarbeitern für neue Produkte und Geschäftsmodelle in der Energiewende. Ob wir das dann aus dem Schoß der AG machen oder mit einem Partner? Ich glaube, das ist nicht die primäre Frage.
Was nehmen Sie mit, wenn Sie Ihr Büro räumen?
Die eine oder andere kleine Erinnerung wie Produktkomponenten oder etwa einen selbst gestrickten Löwen, den die Truppe mir geschenkt hat. Das wird in meinem Büro in Bocholt seinen Platz finden. Ideell nehme ich mit, wie toll es ist, mit Menschen zusammenzuarbeiten und Mitarbeiter zu beteiligen, um Innovationen möglich zu machen.
Als Letztes ein Abschiedsgeschenk eines Journalisten: Die letzte Frage dürfen Sie sich selbst stellen.
Die Frage dazu müssen Sie formulieren. Ich will einfach noch mal sagen: Ich wünsche dem Jens bei den Herausforderungen, die dieses Amt hat, dass er stets auch an seine Gesundheit denkt und dass er in seinem Umfeld Leute hat, die ihm Rückmeldung geben zu seiner Art, zu seiner Arbeit, zu seinem Gesundheitszustand. Dieser Job kann einen auch einsam machen, weil viele fälschlicherweise meinen, man bräuchte keine Rückmeldung. Die Nähe zu den Menschen zu bewahren und Rückmeldung zu bekommen, ist ein wichtiges Gut.