Mülheim. . Der Zugang zu Mülheims Sozialamt ist für Rollstuhlfahrer bedingt geeignet, die Toiletten sind es gar nicht. Die Stadt kennt das Problem, aber...

Jeder Besuch des Gebäudes an der Ruhrstraße 1 ist beschwerlich für Carmen Weber. Die 40-Jährige nutzt einen Rollstuhl, seit ihr das rechte Bein infolge eines Krankenhausinfekts amputiert worden ist. Die Mutter von zwei Söhnen ist auf das Jugendamt und die Schwerbehindertenbeauftragte als Anlaufstellen angewiesen, zuvor brauchte sie auch die Sozialagentur. Alle drei Ämter befinden sich an der Ruhrstraße 1.

Die Rampe am Vordereingang der Ruhrstraße 1 ist schwer befahrbar, am Hintereingang fehlt ein Bewegungsmelder, die Toiletten sind nicht barrierefrei und ein elektrischer Rollstuhl passt nicht in den Aufzug. Das hat diese Redaktion vor Ort festgestellt. „Deshalb muss ich immer planen, wann ich welchen Termin erledige“, sagt Carmen Weber.

Rollstuhlfahrerin muss aufpassen, sonst fällt sie ins Beet

Sie schrieb der Stadt in den Jahren 2016 und 2017 immer wieder E-Mails. Passiert ist seitdem nichts. Immer noch ist es so: Will die 40-Jährige durch den Vordereingang in das Gebäude kommen, dann muss sie die enge Rampe aus Backstein hochfahren. Diese hat einen steilen Winkel und endet abrupt in einem Plateau. Die Gebäudetür muss bereits geöffnet sein, damit Carmen Weber überhaupt ins Gebäude kommt.

„Ein Geländer gibt es hier nicht und ich muss meine Balance halten, damit ich nicht ins Beet kippe“, sagt die 40-Jährige. Und wenn sie die Rampe herunterfährt, dann muss Carmen Weber darauf achten, sich nicht den Zeh an einem Bordstein zu stoßen.

Stadt hat Gebäude von Thyssen Schachtbau angemietet

Auch mit dem elektrischen Rollstuhl – Carmen Weber nutzt ab und an einen – sei es schwierig, die Balance zu halten. „Wegen der Neigung muss ich dann mit hohem Tempo hochfahren, um nicht nach hinten zu kippen.“ Der Hintereingang hat zwei Geländer, ist breit genug, aber der Bewegungsmelder ist außer Betrieb.

Die Stadt kennt die Lage. „Wir können aber nichts tun“, sagt Stadtsprecher Volker Wiebels. Mülheim mietet bis 2022 die Immobilie von Thyssen Schachtbau. Die Sozialagentur ist seit 2012 in der Immobilie angesiedelt. „Das Gebäude ist als privates Bürogebäude konzipiert. Der Einbau einer rollstuhlgerechten Toilette wäre ein enormer technischer Aufwand und würde die Stadt 40 000 Euro kosten.“ Zudem müsse der Eigentümer, also Thyssen Schachtbau, mit einem Umbau einverstanden sein. Dann müsste in dem Gebäude eine Teeküche oder bereits eingebaute Toilette dem barrierefreien WC weichen. Eine kurzfristige Lösung gebe es nicht, die Stadt könne erst in Monaten oder gar Jahren Abhilfe schaffen.

Jugendamt bietet inzwischen auch Hausbesuche an

„Wir arbeiten aber an einer Lösung, überlegen, welchen Raum im Gebäude wir für eine barrierefreie Toilette nutzen könnten“, sagt Wiebels. Das Geld sei aber nicht eingeplant und müsse an anderer Stelle eingespart werden. Die Stadt kümmere sich um den defekten Bewegungsmelder am Hintereingang. „Mitarbeiter des Jugendamtes bieten inzwischen auch Hausbesuche an“, sagt Wiebels.

Mit der fehlenden Barrierefreiheit an der Ruhrstraße 1 bin ich nicht zufrieden und musste diese mit Zähneknirschen akzeptieren“, sagt Alfred Beyer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Behindertenverbände. Beyer ist an allen Bauvorhaben der Stadt beteiligt.

Beyer: Insgesamt ist Mülheim eine barrierefreie Stadt

„Die Stadt hat auf die Beschaffenheit des Gebäudes letztlich keinen Einfluss. Insgesamt ist Mülheim eine barrierefreie Stadt“, zeigt sich Beyer versöhnlich. Kein Verständnis hat Benjamin Daniel Thomas, Vorsitzender des Netzwerks „Menschen mit Behinderung“ der NRW-CDU: „Ich bin erstaunt, dass Städte und Gemeinden in NRW immer noch Gebäude anmieten, die nicht barrierefrei sind oder gemacht werden können.“ Nach Landesrecht ist Mülheim verpflichtet, dass öffentliche Gebäude und Anlagen barrierefrei zugänglich sind und über ein Behinderten-WC verfügen.

Carmen Weber kann die Gründe der Stadt nicht nachvollziehen. „Ich verstehe, dass die Stadt Finanzprobleme hat. Doch das Rathaus wurde als Herzeigeobjekt barrierefrei hergerichtet und dabei verbleiben viele Einrichtungen, die Bürger besonders brauchen, an der Ruhrstraße 1.“ Mitarbeiter des Jugendamtes bieten inzwischen auch Carmen Weber an, Termine bei ihr zu Hause zu machen.

>> BARRIEREFREIHEIT IM ALLTAG

Nicht nur Rollstuhlfahrern soll Barrierefreiheit den Zugang zu öffentlichen Gebäude, Büros und auch Wohnungen ermöglichen, ebenso Sehbehinderten und Hörgeschädigten. Auch ältere Menschen und Kinder profiteren von Barrierefreiheit.

  • Das Bewusstsein für barrierefreie Gebäude ist in den vergangenen Jahren in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gewachsen. Für öffentlich zugängliche Gebäude gibt es Standards. Neue Wohnungen werden häufig zumindest barrierearm gebaut.