Mülheim. . Still und leise liefert Siemens die letzte Turbine für den Rekordauftrag aus Ägypten aus. Statt dessen kommt hoher Besuch zum Krisengespräch.
- Nach dem Auslaufen des milliardenschweren Auftrags aus Ägypten hat das Mülheimer Siemens-Werk Auslastungsprobleme
- Die Auftragsflaute kann zurzeit zwar noch durch den Abbau von Überstunden abgefedert werden, die Zukunft aber ist ungewiss
- Am Montag kommen Bundesaußenminister Sigmar Gabriel und Noch-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zum Krisengespräch
Es dürfte ein eindringliches Zeichen sein, dass Siemens am Montagmorgen unter Ausschluss der Öffentlichkeit die letzte Turbine aus dem Rekordauftrag aus Ägypten auf die Reise schicken wird: Die wirtschaftlichen Aussichten für das Geschäft mit Komponenten für den konventionellen Kraftwerksbau sind äußerst trübe, der Werksstandort Mülheim bangt als größter Siemens-Standort in Nordrhein-Westfalen um seine Zukunft. Am Montag soll hochkarätiger Besuch um weitere Hilfen gebeten werden. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel und Noch-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sind angekündigt.
Eine Anfrage dieser Zeitung zum großen Tag X am Montag, an dem die letzte von zwölf Hochleistungsturbinen sich auf den Weg nach Ägypten macht, blieb vom Siemens-Konzern am Freitag unbeantwortet. Diesem Tag X haben sie im Mülheimer Siemens-Werk seit dem Abschluss des in der Konzerngeschichte einmaligen 8-Milliarden-Euro-Deals mit Ägypten mit großer Sorge entgegengesehen. Denn klar war seit Langem: Realisiert sich die Prognose sinkender Auftragsvolumina auf dem hart umkämpften, weil schrumpfenden Markt für konventionelle Kraftwerkstechnik, wird die Zukunft des so stolzen und erfolgreichen Flaggschiff-Standortes Mülheim eine offene Frage sein.
Betrieb nutzt Arbeitszeitkonten der Mitarbeiter
Und jetzt, da der Ägypten-Auftrag abgearbeitet ist, steht fest: Das Werk an der Rheinstraße hat Auslastungsschwierigkeiten. Das bestätigte der Betriebsratsvorsitzende Pietro Bazzoli auf Nachfrage. Kurzarbeit sei derzeit zwar kein Thema. Doch werde der Betrieb nun die Arbeitszeitkonten der Mitarbeiter nutzen müssen, um über die Runden zu kommen. Die Konten sind noch prall gefüllt, für den in Rekordzeit abzuwickelnden Megadeal mit Ägypten hat die Belegschaft reichlich Überstunden gemacht.
Der Überstunden-Abbau ist freilich nur ein Mittel auf Zeit. Betriebsrat Bazzoli mahnt schon seit Längerem beim Konzernmanagement an, sich über alternative Produkte am Standort Mülheim Gedanken zu machen. Nur so seien Arbeitsplätze vor Ort dauerhaft zu sichern. Im aktuellen „Stromschlag“, der Betriebsräte-Zeitung für den hiesigen Siemens-Standort, heißt es, dass die Arbeitnehmerseite einen „Experimentierraum Standort Mülheim“ einfordern will – eine Plattform, die laut Bazzoli Zukunftsszenarien entwickeln soll, im Schulterschluss mit Konzernführung, aber auch Politik.
Tiefgreifende Veränderungen stehen an
Es gehe darum, Mitarbeitern den Freiraum, bei einer Ergebnismarge von zuletzt 11,5 Prozent (erstes Halbjahr 2017) aber auch ein Budget zur Verfügung zu stellen, um sich professionell mit der Frage zu beschäftigen, wie der Standort Mülheim zukunftssicher aufgestellt werden kann. Im „Stromschlag“ ist die Rede von einem „Strukturwandel“. Das lässt erahnen, auf welch tiefgreifende Veränderungen sich die Arbeitnehmerseite einstellt, da ohnehin der Abbau von 348 Stellen zurzeit organisiert und deutschlandweit über weitere 350 Stellen, die im entsprechenden Geschäftsbereich wegfallen sollen, verhandelt wird.
Außenminister Gabriel und Ministerpräsidentin Kraft werden am Montag bei diesbezüglichen Gesprächen dabei sein. Der Dialog mit ihnen zu Energiewende, Auftragsflaute und Zukunft eines betroffenen Industriestandortes war schon im März 2015 angelaufen, Gabriel (damals noch Wirtschaftsminister) und Kraft wird von den Mülheimer Betriebsräten persönlicher Einsatz attestiert, dass Siemens etwa beim Kraftwerks-Großprojekt in Ägypten anlanden konnte.
Neue Perspektiven eröffnen
Bazzoli hofft, am Montag einen Schritt weiter zu kommen, um möglicherweise am Siemens-Standort Mülheim einen Pilotversuch zu initiieren, wie unter Druck geratenen Industriestandorten im konzertierten Zusammenspiel von Belegschaft, Management und Politik neue Perspektiven eröffnet werden können.