Mülheim. . Reinhard Jehles reiste vor dem Brand im Lager Moria auf die griechische Insel Lesbos, sprach mit Einheimischen und machte sich auf die Suche nach den Schwimmwesten.

  • Laut Medienbericht nur 5700 Plätze für 13000 Menschen
  • Anzahl der ankommenden Flüchtlinge steigt wieder
  • Tourismus in der Krise: Keine Direktflüge nach Lesbos mehr

Was Reinhard Jehles vor ein paar Wochen auf Lesbos erlebte, hat ihn fassungslos gemacht und erschüttert ihn bis heute. „Für mich ist das ein Internierungslager, das mit der Menschenwürde und den europäischen Werten nicht vereinbar ist“, sagt Jehles über das überfüllte und mit Stacheldraht gesicherte Lager Moria, in dem vor ein paar Tagen Flüchtlinge selbst Feuer gelegt hatten. Zuvor hatten die Insassen wiederholt gegen die Zustände protestiert, hatte der Bürgermeister die Regierung in Athen vor einer explosiven Stimmung in dem überfüllten Lager gewarnt, der Papst hat sich für die Menschen dort ebenso eingesetzt wie UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der bei einer Visite im Juni die Weltgemeinschaft aufgefordert hat, „Griechenland bei der Herausforderung nicht allein zu lassen“. Wie viele Flüchtlinge in dem Lager Moria interniert waren, weiß keiner so genau. Auf über 4000 Bewohner kommen laut Human Rights Watch nur 700 Plätze“, hieß es in der FAZ im Juni.

„Es ist passiert, was passieren musste. Das war programmiert“, sagt Jehles, man müsse sich doch nur in die Menschen hineinversetzen, die unter größten Entbehrungen aus Syrien geflohen seien, Angst hätten und dann machte das Gerücht die Runde, dass die Flüchtlinge im großen Stil in die Türkei abgeschoben würden. Laut Süddeutscher Zeitung sollen sich auf der Insel 13.000 Flüchtlinge befinden, obwohl nur 5700 Plätze offiziell vorhanden sind.

Anzahl der Flüchtlinge steigt weiter

Der Anzahl der ankommenden Flüchtlinge steigt wieder. 300 Menschen kamen am vergangenen Wochenende. Explosiv ist auch die Stimmung unter den Einheimischen. Knapp 500 demonstrierten. Existenzielle Sorgen plagen sie. Einige riefen, man solle die Flüchtlinge ins Meer werfen.

Auch die Wut der Griechen kann Jehles inzwischen nachvollziehen. Sie sind gebeutelt. Nach der Finanzkrise, kam die Flüchtlingskrise und dann die Tourismuskrise. Im Internet hat er Zahlen gefunden: zwischen März und August kamen mit 16.745 Touristen nur ein Drittel der Besucher des Vorjahres, als der Tourismus auch schon engebrochen war. Hotels beklagen Buchungsausfälle von 60 Prozent. „Lesbos war vor der Finanzkrise auch bei wohlhabenden Griechen ein beliebter Ferienort“, erzählt der 63-Jährige, der 25 Jahre lang selbst jedes Jahr die griechische Insel unweit der türkischen Küste bereiste, Landschaft und Menschen in sein Herz schloss. Bis zur Finanzkrise. Da wurde ihm die Hetze gegen Deutschland und Deutsche zu bunt, geriet er eines Abends mit seinen Freunden aneinander und wollte künftig die Insel meiden.

Als der Initiator der WiM mit mehreren Flüchtlingen über ihre Erlebnisse gesprochen hatte und einige von ihren Erlebnisse aus Lesbos erzählten, wurde der Saarner doch neugierig und er machte sich auf den Weg. „Dass es keine Direktflüge mehr nach Lesbos gibt, sagt schon einiges über den Bedeutungsverlust des Tourismus“, erzählt er. Seine ersten Gespräche mit den Insulanern verliefen befremdlich. Die Flüchtlinge waren das Tabuthema. Die Flüchtlingskrise wurde bagatellisiert oder gar bestritten. „Alles eine Erfindung der Lügenpresse“, wurde ihm sogar entgegengehalten. Die wenigen, die gekommen waren, seien nicht mehr da.

Mit detektivischem Spürsinn

Mit detektivischem Spürsinn und einem Geländewagen machte er sich gemeinsam mit seiner Frau an die Arbeit, um dreierlei herauszufinden: Wo sind die Menschen, wo sind die Boote und wo die Schwimmwesten. Es müssen ja über 10.000 gewesen sein, die es über die nur zehn Kilometer, aber sehr gefährliche Meerenge von der Türkei in den Norden der Insel zwischen Molivos und Korakes geschafft haben. „Aber so sauber wie jetzt habe ich die Insel in all den Jahren nicht erlebt“, erzählt Jehles, dem im Supermarkt außerdem das Wachpersonal auffiel. Sie fuhren die über 60 Kilometer lange Küstenstrecke bis zum Hafen von Mytilini ab, den die Flüchtlinge in sengender Hitze zurück legen müssen, um sich dort registrieren zu lassen. Auf dem Weg dorthin fanden sie überall am Strand die verlassenen Hütten mit den Welcome-Schildern, die von den Einheimischen und Ehrenamtlern für die Flüchtlinge gebaut wurden. Auf dem Weg sahen sie die Reste von einigen Schlauchbooten sowie ein türkisches Kajütenboot. Offensichtlich waren an dem Morgen dort einige Flüchtlinge angekommen. Am Nachmittag waren diese Spuren bereits schon wieder beseitigt worden. Zufällig trafen sie ein Pärchen, dass mit Mountainbikes im hügeligen Hinterland unterwegs waren. Sie berichteten von einer riesigen Müllkippe, die nur aus Schwimmwesten und den Fetzen der Schlauchboote bestand.

„Das ist nicht Europa“

Am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg und wurden in unwegsamen Gelände auch fündig. Auf Jehles wirkt es wie ein Mahnmal. Er fotografiert und nimmt sich eine Weste als Beweis mit. Zurück in Mülheim werden die Flüchtlinge vor dieser Weste ehrfurchtsvoll zurückweichen, als sei sie mit einem Fluch belegt. Die Weste löst Emotionen aus, denn sie erinnert, diejenigen, die es geschafft haben, an die unzähligen Ertrunkenen.

Später treffen sie auf der Insel Daphne Vloumidi-Troumounis. Sie stand in Mytilini vor Gericht, der Menschenschlepperei angeklagt, nur weil sie eine Hochschwangere im Auto mitgenommen hat, damit diese nicht in der Gluthitze zur Registrierstelle laufen muss. Hilfe ist den Inselbewohnern streng verboten. Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass Flüchtlinge willkommen seien. Schließlich bricht auch Christos, Wirt einer Taverne, der vier Jahre lang als Gastarbeiter in Deutschland gelebt hat, in einem emotionalen Gespräch mit Jehles sein Schweigen. Auch der Wirt hatte Flüchtlingen geholfen und deshalb als Strafe seinen Führerschein verloren und 1000 Euro Strafe zahlen müssen.

Schließlich stand Jehles vor dem mit Stacheldraht geschützten Lager, und fotografierte trotz Verbots und Polizeiwachen. „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, zitiert er Bertolt Brecht. Vergangene Woche rief ihn dann Christos mitten in der Nacht an. „Moria brennt.“