Mülheim. Dem Informationssystem Riskid haben sich auch Mülheimer Mediziner angeschlossen. Unsicherheit besteht mit Blick auf die ärztliche Schweigepflicht.

  • Datenbank informiert über „Risikokinder“ und deckt Ärzte-Hopping auf
  • Einverständnis der Familien ist nötig, wird aber meist erteilt
  • Experten meinen: Immer mehr Eltern mit Erziehung überfordert

Im November starb ein drei Monate altes Mädchen in Mülheim nach schwerer Misshandlung. Bislang wurde niemand deswegen angeklagt. „Kinderschutz steht auf verlorenem Posten“, hatte Heinz Sprenger kurz nach der Gewalttat in einem Gastkommentar für diese Zeitung kritisiert.

Der 63-jährige Mülheimer, ehemals Leiter der Mordkommission der Kripo Duisburg, fordert seit vielen Jahren einen effektiveren Schutz vor Misshandlungen. Er ist, neben dem Duisburger Kinderarzt Dr. Ralf Kownatzki, einer der beiden Väter des Riskid e.V., gegründet vor rund zehn Jahren unter dem Eindruck mehrerer tragischer Todesfälle. Den Kern des Projektes bildet ein deutschlandweit angelegtes „Risikokinderinformationssystem“, dem sich nach Aussage von Kownatzki auch die meisten Kinderärzte in Mülheim angeschlossen haben.

Modell ist umstritten

Es funktioniert in Form einer Datenbank: Sobald ein kleiner Patient neu in eine Praxis kommt, kann anhand von Name und Geburtsdatum recherchiert werden, „ob ein anderer Arzt bei diesem Kind bereits eine Diagnose gestellt hat, die in ihrer Häufung auf eine Misshandlung hindeuten kann“, erklärt Kownatzki. So kommt man auch möglichem „Ärzte-Hopping“ gewalttätiger Eltern auf die Spur.

Das Modell ist in dieser Form umstritten. Seit ein Rechtsgutachten 2008 zum Ergebnis kam, dass die Warndatei illegal sei mit Blick auf die ärztliche Schweigepflicht, lassen sich die teilnehmenden Mediziner jeweils eine schriftliche Einverständniserklärung der Eltern geben, die sie laut Kownatzki meist bekämen: „Wir waren erstaunt, dass auch Eltern aus Problemkreisen unterschrieben haben.“ Obwohl ein zweites Rechtsgutachten mittlerweile ergeben habe, dass die Eltern den Datenaustausch nicht genehmigen müssen, plädieren die Riskid-Initiatoren für eine Gesetzesänderung, indem § 9 der Berufsordnung der Ärzte ins nordrhein-westfälische Heilberufegesetz übertragen wird. „Dies würde den Ärzten mehr Sicherheit geben“, erklärt Heinz Sprenger.

Bestehende Angebote ergänzen

Gemeinsam mit Dr. Ralf Kownatzki stellte er am Dienstag das Riskid-Projekt in der VHS Mülheim vor. Dort tagte, unter Leitung der städtischen Gleichstellungsstelle, der Runde Tisch gegen häusliche Gewalt, in dem unter anderem Frauenverbände, Polizei, Gesundheitsamt und Politiker vertreten sind. Riskid sei dort allenfalls flüchtig bekannt gewesen, so Sprenger. „Aber alle stimmen zu, dass Kinderschutz nur funktionieren kann, wenn man über den eigenen Tellerrand schaut.“

Riskid wolle auch keine anderen Projekte oder Fachleute ersetzen, sondern bestehende Angebote ergänzen. Seit 2012 schreibt das Kinderschutzgesetz vor, dass Institutionen verpflichtet sind, das Jugendamt zu informieren, wenn der Verdacht auf schwere Kindeswohlgefährdung besteht. „Wir wollen Diagnosen zum Schutz der Kinder frühzeitig treffen“, erklärt Kownatzki. „Wir sind ein Filter. Denn es ist ganz schlecht, wenn eine halbgare Diagnose an die Jugendhilfe gemeldet wird.“

Eltern oft erziehungsunfähig

Das Kindeswohl ist immer häufiger gefährdet, auch in Mülheim. Für diese Einschätzung sprechen Zahlen des Kommunalen Sozialen Dienstes (KSD), dem hier in der Stadt der gesetzliche Kinderschutz obliegt.

2015 wurden insgesamt 140 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen, während es im Vorjahr lediglich 36 waren. In 30 bis 35 Fällen sei Gewalt im Spiel gewesen, hatte Martina Wilinski, Leiterin des KSD, im Mai gegenüber dieser Zeitung berichtet: Immer öfter seien Eltern aufgrund schwieriger Lebensbedingungen überfordert.

Auch die Gründer von Riskid glauben: „Die Zahl der erziehungsunfähigen Eltern nimmt zu.“ Nicht selten habe man den Eindruck, dass das Kindergeld nicht in erster Linie dem Nachwuchs zugute kommt. Eine in diesen Tagen veröffentlichte Bertelsmann-Studie hatte ergeben, dass in Mülheim 27 Prozent aller Kinder in Familien leben, die Hartz IV beziehen.

„Hilfe“, meinen Heinz Sprenger und Dr. Ralf Kownatzki, „muss direkt bei den Kindern ankommen. Ganztagsbetreuung, Sportvereine, vernünftiges Essen und Bildung.“