Mülheim. . In Georg Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ machen Philipp Preuss und Sven Schlötcke Bezüge zum Computerzeitalter sichtbar. Premiere ist am Theater an der Ruhr am Donnerstag, 15. September.

  • Schlötcke und Preuss schätzen Büchners enorme Hellsichtigkeit zu Beginn der industriellen Revolution
  • Fabio Menendez in einer Doppelrolle: Leonce undKönig Peter
  • Preuss hat auch den Danton in Frankfurt und den Woyzeck in Berlin inszeniert

Eigentlich wollten sie eine Dramatisierung des Bestsellers „The Circle“ von Dave Eggers auf die Bühne bringen. Jetzt machen Philipp Preuss und Sven Schlötcke etwas thematisch Verwandtes: „Leonce und Lena“ von Georg Büchner. Auf den ersten Blick verbindet den amerikanischen Bestseller über die wachsende Kontrolle einer Internet-Firma nichts mit dem 1836 entstandenen Lustspiel, das auf den ersten Blick wie ein rebellisches Aufbruchsdrama, wie eine bissige Satire auf die spätfeudalen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts erscheint. Doch im Gespräch gelingt es den beiden rasch, eine nachzuvollziehende Verbindungen zu ziehen.

Wer zieht hier die Fäden?

Da werden im Schlussakt aus den Menschen Pappautomaten. „Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendecke und Uhrfedern“, sagt Valerio, der Diener des Leonce da, der gleich als vierfacher Klon im uniformen beigen Dress auf der Bühne steht. „Man drückt ein klein wenig und die Mechanik läuft volle fünfzig Jahre“, erklärt er. „Sie sind moralisch, denn sie stehen auf den Glockenschlag auf...“. Büchner greift Schachteln und Zwiebelschalen als Metaphern auf, um deutlich zu machen, dass es mit der Freiheit des Subjektes nicht so weit her ist.

Für Schlötcke und Preuss offenbart sich in Leonce und Lena eine enorme Hellsichtigkeit des damals am Beginn der industriellen Revolution gerade 23-Jährigen Büchner, der die Erkenntnisse der aktuellen Neurowissenschaften (Libet-Experiment) zumindest erahnt. Situationen werden auf die Spitze getrieben und man fragt sich, wer denn hier die Fäden zieht, wer für den Mechanismus verantwortlich ist? Es muss ein Algorithmus sein, der die Menschen antreibt. Der Handlungskern ist simpel: Leonce und Lena fliehen vor der arrangierten Heirat und verlieben sich, ohne zu wissen, wer sie sind und heiraten, ohne dass die Hochzeitsgesellschaft weiß, wer sie sind. Angedeutet ist auch ein Vater-Sohn-Konflikt. Dem genetischen Determinismus kann Leonce nicht entfliehen. Die Inszenierung verschärft das, indem Fabio Menendez in einer Doppelrolle neben dem Leonce auch den König Peter spielt.

Diesen Automatismus zu spielen, ist eine Herausforderung und eine Lust. Preuss hat mit den Schauspielern nach einer Form gesucht, die nicht roboterhaft oder nach Breakdance-Bewegungen aussieht. Es sind kleine Irritationen, ruckelnde Bewegungen oder Wiederholungen, bei denen man denken könnte, das System hängt sich auf. Und einige Gesten und Bewegungen wie das Wischen und Ziehen kennt man ja selbst aus der Handhabung der modernen Geräte.

Der Königssohn laboriert an seinen Idealen, leidet am Müßigang und der unglaublichen Langweile. Leonce und Valerio, ein heißhungriger Genussmensch, der zum Schluss das Arbeiten unter Strafe stellen möchte, sind Meister des Wortspiels und so ist schon Büchners Sprache ein Genuss. „Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal...“ Nicht einmal seinen angekündigten Selbstmord kann er vollenden.

Figuren der Vergeblichkeit

Schlötcke spricht von „Figuren der Vergeblichkeit“ und weist auf einen Widerspruch hin: im „Hessischen Landboten“ ruft Büchner die Bauern zur Rebellion auf, um die gesellschaftlichen Bedingungen zu ändern, die Figuren haben sich aber abgefunden und resigniert. Als Mediziner hatte er großes Interesse an den Nerven. Befunde der Menschheit mit dem Skalpell herausgeschnitten. Der 42-Jährige Preuss hat sich schon intensiv mit Büchner befasst, den Danton in Frankfurt und den Woyzeck in Berlin inszeniert. Preuss sieht hier Bezüge zum Existenzialismus und zum absurden Theater. „Man muss sich Sisyphos nicht als glücklichen Menschen wie bei Camus, sondern als einen wütenden vorstellen“, meint er.

Die Königreiche Pipi und Popo, das deuten schon die Orte an, sind keine realen Orte. Wollen wir ein Theater bauen, fragt am Ende Leonce. Das Spiel ist schon ein Thema und so versucht Preuss gar nicht die Illusion zu erwecken, auf der Bühne werde eine Realität geschaffen. So tritt Menendez wiederholt aus seiner Doppelrolle und karikiert sogar den Probenprozess und den Regisseur mit seinem „Impro-Quatsch“.

Was die beiden bei Eggers gereizt hat, ist die Freiwilligkeit, mit der sich die Menschen in die Abhängigkeit von einem Konzern begeben haben und sich diesem vollkommen ausliefern. Es fehlt nur noch der letzte kleine Schritt, vielleicht 80 Prozent sind im Gegensatz zu den Utopien eines Jules Vernes schon real, stellen die beiden fest. Letztlich ist das Vorhaben am amerikanischen Verlag gescheitert, der die Rechte verweigerte.

„Das ist schon eine sehr feines Arbeiten hier“, sagt Preuss als Zwischenfazit von seiner ersten Regierarbeit in Mülheim. So dürfte einer weiteren fruchtbaren Zusammenarbeit nichts im Weg stehen.

Ein langer Dialog 

2012 durch die Inszenierung von Molières „Geizigem“ in Moers auf Philipp Preuss aufmerksam geworden, begannen Helmut Schäfer und Sven Schlötcke den Arbeiten seinen Inszenierungen hinterher zu reisen und stiegen in einen künstlerischen Dialog ein.

Der Österreicher, der große Produktionsmaschinen kennen gelernt hat, schätzt den langen Atem, mit dem am Raffelberg Themen diskutiert werden.

Er war überrascht, dass zu den Proben auch Schauspieler erschienen, die gar nicht dran waren, hielt das zunächst für einen Fehler, weil Schauspieler an anderen Bühnen gar keine Zeit haben, aus purem Interesse den gesamten Probenprozess zu verfolgen. Ihn fasziniert auch das Modell. In der Nische unterliege man weniger Zwängen als an den „Riesentankern“, denen er eine Mutlosigkeit und Absturzangst attestiert.