Mülheim. . Der Streit um Schadenersatz für Wettverluste zwischen der Stadt Mülheim und der Commerzbank könnte Ende September beendet sein.
- Stadt Mülheim hatte für Wettverluste 560 000 Euro Schadenersatz gefordert
- Oberlandesgericht empfahl in der Berufung einen Vergleich
- Politik muss den ausgehandelten Deal noch absegnen
Die Stadt strebt an, auch die zweite gerichtliche Auseinandersetzung mit einer Bank um Schadenersatz für die Millionenverluste mit Zins- und Währungswetten mit einem Vergleich abzuschließen. Ein solcher ist nun im Berufungsverfahren gegen die Commerzbank vor dem Oberlandesgericht Hamm ausgehandelt worden. Mülheims Politik soll kurzfristig und unter Ausschluss der Öffentlichkeit entscheiden, ob sie den vom Rechtsamt geebneten Weg mitgehen will.
Man habe der Empfehlung des Gerichtes entsprochen und noch am Verhandlungstag einen Vergleich ausgehandelt, bestätigt Rechtsamtsleiterin Bettina Döbbe. Laut Radio Mülheim soll der Vergleich einen Schadenersatzanspruch der Stadt in Höhe von 180.000 Euro anerkennen, gut das Dreifache hatte die Stadt mit dieser im Vergleich zum West LB-Verfahren kleinen Klage gefordert. Döbbe wollte die genannte Summe nicht bestätigen, verwies darauf, dass die Inhalte des Vergleichs sowohl bei der Stadt als auch bei der Commerzbank noch intern zu diskutieren sein würden. Beide Streitparteien hätten sich auf eine Widerrufsfrist für den Vergleich bis Ende September verständigt.
Wind hatte sich am Oberlandesgericht offenbar gedreht
Geklagt hatte die Stadt auf Schadenersatzansprüche für Wettgeschäfte aus den Jahren 2003 und 2004, als das Mülheimer Wettdebakel mit möglicherweise am Ende mehr als 35 Millionen Euro Verlust seinen Anfang genommen hatte. Vor dem Landgericht Essen hatte die Stadt mit ihrer Klage im Jahr 2015 eine krachende Niederlage eingefahren, im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht muss sich der Wind gedreht haben, sonst wäre die Commerzbank sicher zu keinem Vergleich bereit gewesen. Details hierzu wollen mit Verweis auf das weiter nicht abgeschlossene Verfahren aber weder Döbbe noch ein Sprecher des Gerichtes preisgeben.
Wetten, dass Mülheim verliert? Ein Rückblick auf die Wettgeschichte
Die Vergleiche mit West LB-Abwicklerin und Commerzbank sind unter der Maßgabe gegenseitiger Verschwiegenheit ausgehandelt, die Stadt will den Deckel draufmachen auf ihre unheilvolle Geschichte mit Wetten auf Zinsen und Währungen. Am Ende werden zig Euro-Millionen verbrannt sein. Ein Rückblick.
Der Anfang allen Übels
Es ist der 13. Oktober 2003, kein Freitag: Der Finanzausschuss des Stadtrates tritt zusammen und trifft eine Entscheidung, die bis zum heutigen Tag und weit darüber hinaus, womöglich bis zum Jahr 2026, Millionenverluste für die Stadt und ihre Bürger verursachen wird. Der damalige Kämmerer Gerd Bultmann verlangt den 16 anwesenden Kommunalpolitikern eine Zustimmung zu seinem Vorhaben ab, mit volumenträchtigen Derivatgeschäften, jenen undurchsichtigen Wetten auf Währungen und Zinsen, danach zu trachten, die Zinsausgaben der Stadt zu „optimieren“.
Von der Landesbank sind eigens Theo Goßner und Thomas Hüsgen angereist, um den Freizeitpolitikern das Wetten schmackhaft zu machen, zwei Banker mit Leitungsfunktionen bei der Landesbank. Sie werben mit einer erschlagenden Präsentation dafür, dass die Stadt durch „geschickte Gestaltung“ von Wetten, eben gegen ihre West LB, kräftig Zinsen sparen könne. Den Interessenkonflikt in jenem Geschäft – dass nämlich die West LB als Wettgegenüber der Stadt nur dann profitieren kann, wenn die Stadt Verluste macht – verschweigen der spätere Westlotto-Chef Goßner und sein Kollege. Ihre Schlagwörter sind eine neue „Flexibilität“ für das städtische Finanzmanagement, eine „Minimierung“ von Zinsausgaben oder „Optimierung des Chancen- und Risikoprofils“.
Politik witterte 2003 den Reibach
Das fruchtet. Die Politik wittert den Reibach. Der Beschlussvorschlag des Kämmerers geht einstimmig durch, nachdem sich laut Sitzungsprotokoll der Erläuterungsbedarf der Politik insbesondere nur darum gedreht hat, wie hoch denn die möglichen Einsparungen für die wettende Stadt ausfallen könnten.
Das folgenschwere Wetten-Votum fällt nicht-öffentlich. Nur Dr. Margrit Toma-Dislich (CDU) enthält sich. Später, als die ersten Verluste zu Buche stehen, aber nur ansatzweise die heute bekannte fatale Entwicklung erkennbar ist, erklärt Toma-Dislich ihre Enthaltung als Reaktion auf ein vorbereitendes Gespräch mit Börsenmanagern. Sie habe im Ausschuss noch vor den Geschäften gewarnt, sagt sie zurückblickend. „Ich habe mir den Mund fusselig geredet, aber es wollte keiner darauf hören.“ Ihre Ratskollegen seien der Gutgläubigkeit erlegen, der Stadtkasse satte Beträge zuführen zu können.
Es gibt außer ihr noch einen anderen Ratspolitiker, der früh Alarm schlägt. Es ist einer der im Rat Belächelten, der ganz Linken: der inzwischen verstorbene Gerhard Schweizerhof von „Wir aus Mülheim“. Dass er in seiner Rede zum Etatentwurf 2006 Mülheims Wetterei als „Skandal erster Ordnung“ bezeichnet, weil die Stadt mit dem Geld der Bürger in unredlicher Art und Weise zocke, ruft bei SPD-Ratsherr Willi Budde gar noch blankes Entsetzen hervor: „Dafür“, ruft dieser in Schweizerhofs Rede hinein, „müssen Sie sich entschuldigen!“
Das Übel nimmt seinen Lauf
Ex-Kämmerer Bultmann setzt nicht nur Wetten mit der West LB in Gang, sondern frühzeitig auch mit der Commerzbank. Zunächst erntet er minimale Gewinne in vierstelliger Euro-Höhe. Bultmann dehnt die Zockerei aus, schon 2004 tauchen die ersten Probleme auf. Bultmanns Führungsriege im Zentralen Finanzmanagement lässt die Wetten immer wieder umstrukturieren, tauscht üble Geschäfte mit noch übleren.
Schließlich entschließt sich Bultmann, die Stadt mit der West LB als „Partnerin“ aus den Risiken der Commerzbank-Geschäfte freizukaufen. Mit der West-LB wettet er nun darauf, dass sich die Zinsen in den kommenden Jahren ausschließlich in einem relativ kleinen Zielkorridor entwickeln würden. Bultmanns Einschätzung liegt daneben. Die Probleme werden größer und größer.
Kämmerei zur Jahreswende 2005/06 monatelang führungslos
Auch wegen vieler anderer Eskapaden und Unzulänglichkeiten, so berichten Insider, wird Bultmann im November 2004 von SPD und CDU im parteipolitischen Klüngel aus der Kämmerei weggelobt, als Geschäftsführer der Müllentsorgung darf Bultmann fortan gar noch mehr Gehalt einstreichen. Der SPD-Mann ist auf politisch sanfte Art aus dem Amt des Kämmerers gejagt, freilich wird er bei der MEG später noch weiteren Schaden für die Stadt zu verantworten haben. Die Geschichte um die Yassine-Affäre und die Millionenverluste einer Gärungsmaschine tun hier aber nichts zur Sache.
Wettmeister Bultmann ist gerade mal ein paar Tage weg aus der Kämmerei, da treffen die leitenden Finanzmanager der Stadt, die nun monatelang ohne direkten Vorgesetzten mit dem Wetten-Ungetüm zu hantieren haben, eine Entscheidung zur Umstrukturierung, die die Wettrisiken noch einmal explodieren lassen. Es geht, ohne Information der Mülheimer Öffentlichkeit, längst um Millionen. Verzockt im ungleichen Kräftemessen mit den Bankprofis der alten West LB.
Das schwere Erbe Bultmanns
Am 28. März 2006, nach fast vier Monaten der führungslosen Kämmerei, tritt Bultmanns Nachfolger und Zögling Uwe Bonan seinen schweren Dienst an. Bonan, der sich ehrgeizig vom ehemaligen Azubi zum Verwaltungsfachangestellten hochgearbeitet und in Mülheim Ansehen erarbeitet hat.
Bonan, dessen Spezialgebiet die eher technische Einführung des Neuen Kommunalen Finanzmanagements ist, muss nun mit dem Hintergrund ausschließlich einiger betriebswirtschaftlicher Aus- und Fortbildungen das millionenschwer aus dem Ruder gelaufene Erbe Bultmanns möglichst zügig und zumindest einigermaßen in den Griff bekommen. Und zwar eiligst.
Knapp zwei Jahre nach seinem Dienstantritt geht Bonan im März 2008 mit einer ersten und lange einzigen Zwischenbilanz an die Öffentlichkeit. Knapp 6,1 Millionen Euro seien bis Ende 2007 in den Sand gesetzt worden, berichtet er im März 2008 der Finanzpolitik. Und dass die Stadt aus den Wetten nicht so schnell, nicht vor 2017, herauskommen werde. Druck von der Politik, die Risiken transparenter als geschehen für die Öffentlichkeit darzulegen, spürt er die folgenden Jahre nicht.
Das Ringen um Transparenz
Eine Aufarbeitung des Millionengrabs bleibt jahrelang unter den Teppich gekehrt. In einer verwaltungsinternen juristischen Prüfung kommen die Verantwortlichen der Stadt ungeschoren davon, obwohl sie nachweisbar mindestens einmal trotz Warnung der West LB in noch riskantere Geschäfte eingestiegen sind.
Erst im März 2011 sorgt ein Urteil des Bundesgerichtshofes, mit dem die Deutsche Bank wegen mangelhafter Beratung zu Wettgeschäften zu millionenschwerem Schadenersatz verdonnert wird, dafür, dass Mülheims Wettdesaster noch einmal ans Tageslicht kommt. „Tangiert uns nicht“, wiegelt ein Stadtsprecher zunächst und prompt Nachfragen dieser Zeitung ab.
Schaden könnte sich am Ende auf rund 35 Millionen Euro summieren
Fünf Jahre hat diese Redaktion um Transparenz gekämpft. Mit Unterstützung der politischen Mehrheit hat sich die Verwaltungsspitze gar noch in einer Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht Münster gegen eine Akteneinsicht eines Redakteurs zu sperren gesucht. Allerdings erfolglos. Heute steht, wenn auch von Kämmerer Uwe Bonan vehement bestritten, zu befürchten, das zutrifft, was die West LB-Abwicklerin vor Gericht allzu deutlich als möglichen Schaden prognostiziert hat: Mit ihrer Wetterei wird die Stadt am Ende der Laufzeiten möglicherweise mehr als 35 Millionen Euro verzockt haben. Geld, das reichen würde für drei Schwimmbad-Neubauten. Oder allerlei anderes, das die Bürger als Angebot oder Daseinsvorsorge in ihrer heillos überschuldeten Stadt wünschen.