Mülheim. „Das war auch mein Bunker.“ Eine Leserin kehrt nach über 70 Jahren an den Ort zurück, der noch heute Beklemmung bei ihr auslöst: den Bunker am Marienplatz.
Zum Test lässt Hans-Georg Hötger das nach Kriegsende installierte Licht ausknipsen. Es funktioniert: An den Bunkerwänden leuchten die fluoreszierenden Leitstreifen der I.G. Farben AG. Sie sollten den Schutzsuchenden im Zweiten Weltkrieg die Orientierung erleichtern im Tiefbunker am Styrumer Marienplatz, dessen Pforten die WAZ nun für Leser öffnen ließ.
Weg zum Bunker im Ernstfall kaum zu schaffen
Hötger ist nicht nur pensionierter Geschichtslehrer, sondern seit Jahren im Verein Bunkerwelten Mülheim aktiv. Er, Jahrgang 1941, hat den Bombenkrieg als Kleinkind erlebt. Einmal gar war er verschüttet, im Evangelischen Krankenhaus. Einen Bunkerschein, lässt er die Leser bei der Führung an seinen persönlichen Erinnerungen teilhaben, hatte seine Familie für den Hochbunker an der Salierstraße. Der aber war fast einen Kilometer vom Elternhaus entfernt. Der Weg, so der 75-Jährige mit Verweis auf die immer später ertönenden Alarmsirenen, „war kaum zu schaffen“. Einmal zerschnitten ihm die zerberstenden Fensterscheiben im Schlaf das Gesicht. . .
Am Marienplatz schließt Hötger die Tür auf zum ehemals kleinsten von sieben öffentlichen Tiefbunkern der Stadt. Nicht mal mit Notstromaggregat war dieser 1941 errichtet worden, offiziell sollte er 294 Menschen Schutz bieten. „Es waren auch mehr als doppelt so viele drin“, weiß Hötger von Recherchen. Die 120 Liter Frischluft, die laut Verfügung des Führers pro „Volksgenosse“ im Bunker zur Verfügung stehen sollten. . . Nur eine Zahl auf Papier.
Heute, da der Bunker der Gemeinde St. Mariae Rosenkranz als Lager dient, lässt sich kaum mehr erahnen, welch angstvolle Stunden die Menschen hier seinerzeit verbracht haben. Eine Leserin murmelt beim Abstieg über die ausgeschlagenen Treppenstufen, sie habe hier selbst Schutz vor den Bomben gesucht. „Grausam.“ Mehr kann sie gar nicht dazu sagen. Der Moment der Rückkehr an diesen Ort der Angst hat sie ergriffen.
Am Steinbruch Rauen bauten Anwohner ihren eigenen Bunker
Margot Klause-Schmidt (78) erinnert sich, dass ihr Vater mit Nachbarn selbst nach Feierabend zu Hacke und Schüppe gegriffen hat, um am Steinbruch Rauen einen Bunker in einem Felsenstollen zu bauen. „Die Fleißigsten durften bei Luftalarm in der Mitte, am sichersten Platz, sitzen“, erinnert sie sich, die Alten und Armen vorne am Eingang. „Jedes Pfeifen und Bombensausen hörte man durch die Luftschächte. Zwei Fotos aus dem Nachlass ihres Vaters, auch einen Brief an die Nachbarschaft, die Männer sollten doch beim Bunkerbau helfen, hat sie extra eingepackt, um sie dem Verein Bunkerwelten zu überlassen.
Mülheim war mit der Hütte und den Rüstungswerken von Thyssen besonders im Visier der alliierten Bomber. Hötger verteilt ein Flugblatt, mit dem die Briten die Zivilbevölkerung unmissverständlich aufgefordert haben, den Kriegsschauplatz zu räumen. „Wer diese Warnung missachtet“, heißt es da, „hat sich die Folgen selbst zuzuschreiben.“
Bunker boten gerade mal jedem zehnten Bürger Schutz
Und da saßen die Mülheimer nun in Kellern und Bunkern. Die schwerste Bombardierung erlebte Mülheim in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943, die Innenstadt brannte lichterloh. Es gab doch nur 14 öffentliche Bunker. Der größte, der Bunkerstollen Rosendelle, bot auf Gängen mit einer Gesamtlänge von mehr als einem Kilometer und in 18 Metern Tiefe rund 2500 Menschen Schutz. Der staatliche Bunkerbau (für 5 bis 6 Millionen Reichsmark in Mülheim) bot aber, so Hötger, gerade einmal 10 % der Mülheimer Bevölkerung Schutz.
Am Marienplatz war das Areal über dem Tiefbunker mit einem sechs Meter hohen Erdwall zusätzlich gesichert. Tiefbunker, so Hötger, hätten die Druckwellen besser aushalten können als jene, die oberirdisch angelegt waren. Mit Kerzen und Taschenlampen saßen die Menschen im Bunker am Marienplatz, der Luftfilter lief im Handbetrieb. „Ruhe bewahren. Nicht rauchen!“ Das steht da heute wie damals in unübersehbaren Lettern an der Wand. Wie aber Ruhe bewahren, wenn bei Bombeneinschlägen im Umfeld der Kalk von den Wänden rieselt, die Kinder losschreien?, fragt Hötger in die Runde, ohne dass es einer Antwort bedarf. Danach geht es durch die ehemalige Gasschleuse in den größten Raum des Bunkers, der doch so klein ist, dass die Besucher wohl erahnen können, auf welch engem Raum die verängstigten Menschen hier einst bis zu elf Stunden ausgeharrt haben.
Bunker Marke Eigenbau
Nur ein paar hundert Meter weiter, an der Albertstraße, zeigt Hötger einen Bunker Marke Eigenbau, den die Nachbarschaft einst für 30 Menschen geschaffen hat. Fünf Meter ginge es runter, heute aber nicht, Teile der Decken drohen abzustürzen. „Hier“, sagt Hötger, sehe man noch mal deutlich, „wie die Menschen auf archaische Weise um ihr Leben gekämpft haben.“
Eine eindrucksvolle Führung, bei der Ratsherr Hötger nicht sein Unbehagen darüber zurückhält, dass Deutschland heute wieder der drittstärkste Rüstungsexporteur der Welt sei, ist zu Ende.
Der Bunkerwelten-Mann verabschiedet sich mit Worten des Harvard-Professor George Santayana: „Wer seine Vergangenheit nicht aufarbeitet, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“