Mülheim. In den Mülheimer Fliedner Werkstätten wurde ein Bildungsmodul entwickelt, das Gebärdensprache auf niederschwelliger Art vermittelt – mit Stempeln.

Sie redet schnell und ohne Unterlass, die Worte sprudeln ihr nur so aus den Händen. Aus den Händen? Ja, denn Nathalie ist gehörlos. Die 27-Jährige arbeitet in den Fliedner Werkstätten und weiß genau, wie man den Gebärdenkoffer gebraucht. Konzentriert greift sie nach einem der Stempel, drückt seine gummierte Seite zunächst tief ins Stempelkissen und dann ganz akkurat auf ein weißes Blatt Papier.

Fünf Mal macht sie das, dann steht der Vorname der Autorin auf dem Blatt – in den Buchstaben des Fingeralphabets. Strahlend zeigt Nathalie das Ergebnis. Ihre Gruppenleiterin Kerstin Schwarze freut sich mit: „Nathalie ist durch die Beschäftigung mit dem Gebärdenkoffer aufgetaut. Vor anderthalb Jahren wäre sie nicht so offen gewesen.“ Ziel der mobilen Lernhilfe ist es, die Barrieren zwischen Gehörlosen und Hörenden abzubauen.

Gehörlose leben in ihrer eigenen Kultur

„Gehörlose leben in ihrer eigenen Kultur. Ironie etwa können sie nicht verstehen, denn die Gebärde bleibt die gleiche“, erklärt Gruppenleiterin Kerstin Schwarze und nennt ein weiteres Beispiel: „Sich in einem Gespräch mit ihnen einfach wegzudrehen, ist wie eine Beleidigung.“ Hürden wie diese zu überwinden, dabei will Kerstin Schwarze mit dem von ihr erdachten Geko-Projekt helfen. Die Stempel mit den Abbildungen des Fingeralphabets hat sie entwickelt, weil sie die Erfahrung gemacht hat, dass die mit den Fingern dargestellten Buchstaben leichter zu lernen sind, wenn man sie mit etwas Haptischem und Visuellem verbindet. An den Gebärdenkoffer ist ein Kurs gekoppelt, in dem nicht nur das Fingeralphabet, sondern auch der Umgang mit nonverbalen Menschen vermittelt und den Teilnehmern die Gehörlosenkultur nähergebracht wird. „Nach zwei Tagen kann jeder eine kleine Geschichte erzählen“, sagt Trainerin Kerstin Schwarze.

Nicht nur Gehörlose, sondern auch Menschen mit anderen Beeinträchtigungen, wie etwa Autismus, können von dem Gebrauch des Koffers und den über ihn gelernten Gebärden profitieren: „Es ist viel gewonnen, wenn ein nonverbaler Mensch die Gebärden Essen, Trinken und Toilette kann – so kann er drei Grundbedürfnisse zum Ausdruck bringen“, verdeutlicht Kerstin Schwarze.

Gehörlosen über einen einfachen Weg mehr Gehör verschaffen

Der Gebärdenkoffer – der komplett in den Fliedner Werkstätten gefertigt wird – und der zugehörige Kurs kommen nicht nur in Behinderten-Einrichtungen zum Einsatz, sondern auch Behörden, Banken und Krankenhäuser lassen einzelne Mitarbeiter über das Geko-Konzept ausbilden, um auch mit gehörlosen Kunden, Mitarbeitern oder Patienten kommunizieren zu können.

Dass ihre Idee, Gehörlosen über einen einfachen Weg mehr Gehör zu verschaffen, und das daraus entstandene Projekt Wirkung zeigen, erfährt Kerstin Schwarze tagtäglich bei ihrer Arbeit in den Fliedner Werkstätten: „Früher sind wir oft in unserer Gehörlosen-Werkstatt angerufen worden, um irgendwo auf dem Gelände zu dolmetschen, wenn die Verständigung mit einem Gehörlosen nicht klappte. Das passiert heute nicht mehr.“