Mülheim. . Die syrische Flüchtlingsfamilie Derbo hat am Bürgerfest von Bundespräsident Joachim Gauckteilgenommen - stellvertretend für die vielen Engagierten bei der WiM.
Ein Klick. Anoar Derbo hält sein Handy in die Luft und macht ein Foto vom Bundespräsidenten. Der ist gerade, nur wenige Meter von ihm entfernt, die eindrucksvolle Treppe vor der Terrasse des Schlosses Bellevue hinuntergeschritten. Jetzt steht Joachim Gauck auf einer großen Bühne und begrüßt die 6000 Gäste, die er zum Bürgerfest in den weitläufigen Park seines Amtssitzes eingeladen hat. Derbo hebt noch einmal den Apparat in die Höhe, wieder ein Klick. Jetzt hat er ein schönes Foto von Gauck im Kasten. Aber welches Bild hat der syrische Familienvater von Deutschland? Als er vor drei Jahren mit seiner Familie nach Mülheim gekommen ist, da hatte er eine lebensgefährliche Flucht hinter sich.
Auf einem nur neun Meter langen Boot, zusammen mit 160 anderen Menschen, sind sie nach Europa gekommen. Jetzt stehen er und seine 15-jährige Tochter Rosa in einem riesigen Schlosspark, überall sind Buden aufgebaut, wo es etwas zu essen und zu trinken gibt. Auf der Bühne singt gleich Nena. Größer könnte der Gegensatz nicht sein, zwischen den dramatischen Umständen der Flucht und dieser Märchenschloss-Kulisse. Dazwischen liegt das Engagement von Anoar Derbo und seiner Familie. Von Anfang an haben sie bei „Willkommen in Mülheim“ mitgeholfen. Deswegen war für WiM-Initiator Reinhard Jehles klar, als er die Einladung vom Bundespräsidenten bekommen hatte, die Flüchtlingsfamilie muss mit - stellvertretend für die vielen anderen Engagierten...
Zu Joachim Gauck eingeladen
Für diesen Einsatz dankt auch Joachim Gauck in seiner Rede, er lobt die viele Initiativen im ganzen Land, die so wie die WiM sich um die Willkommenskultur verdient gemacht haben. Auch Anoar Derbo würde gerne Danke sagen, am liebsten dem Präsidenten persönlich. Doch es ist schwer zu ihm durchzudringen. Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel sind bei ihrem Rundgang durch den Park begehrt, viele wollen ihnen die Hände schütteln. Dazu kommen die vielen Sicherheitsleute, die die Kanzlerin und den Präsidenten umringen.
Anoar Derbo weiß, was er den beiden sagen würde. Er und seine Familie sind Kurden. Und sie sind Jesiden, keine Muslime. „Bei uns musste in der Schule jeder den Koran lesen, auch wenn er kein Muslim war. In Deutschland sind wir nicht einmal nach unserer Religion gefragt worden. Das spielt hier keine Rolle“ , erzählt er. Und schüttelt den Kopf: „In der Schule im Koran lesen, aber keine richtige Ausbildung für die Schüler.“ Das ist in Deutschland anders, hier sieht Anoar Derbo für seine Tochter große Bildungschancen. Rosa besucht im Moment die 9. Klasse der Max-Kölges-Schule. Sie kann sich schon gut auf Deutsch verständigen.
Staatsbürgerkunde vor Ort
Vor ihrer Fahrt in die Hauptstadt haben sich Vater und Tochter auch mit der deutschen Geschichte und dem politischen System auseinandergesetzt. Dabei geholfen hat ihnen Hevidar Mert, eine 18-jährige Abiturientin, die auch aus einer kurdischen Familie stammt und sich bis zum Studien-Beginn bei WiM engagiert. Bei der Fahrt ist sie als Übersetzerin dabei. Auf dem Weg zum Schloss Bellevue machen die Derbos an wichtigen Erinnerungsorten Station: Ein Überrest der Berliner Mauer, das Brandenburger Tor, der Reichstag - und auch vor dem Holocaust-Mahnmal halten sie inne. Viele zusätzliche Informationen brauchen sie nicht. „Ich habe in Politik von 33 möglichen Punkten 30 erreicht“, berichtet Anoar von seinen Erfolgen im Integrationskurs.
Und überhaupt, staatsbürgerliche Pflichten sind für die Derbos nichts Theoretisches. Für sie geht es darum, Menschen in Not konkret zur Seite zu stehen. Das beweisen sie auch in Berlin, denn auch dort ist die Flüchtlingsfrage präsent. Gerade am Berliner Hauptbahnhof angekommen, strebt ein junger Mann auf sie zu. Ein Iraker, auch er hat seine Heimat verlassen. Nun will er wissen, wo er sich melden muss. Sie geben ihm Tipps. Bei der Rückfahrt im Zug wird ebenfalls ein vermeintlicher Flüchtling aufgegriffen. Das Zugpersonal versteht ihn nicht. Hervida Mert bietet ihre Übersetzungsdienste an. Doch es stellt sich heraus, dass der Mann eine andere Sprache spricht. Diese Beispiele stehen für eine Haltung. „Das macht den Unterschied aus“, sagt Reinhard Jehles. Er sagt es, als Anoar Derbo gerade einem Bettler am Hauptbahnhof eine Zigarette schenkt. Diese Haltung ist auch eine Form, Danke zu sagen.