Mülheim. . In Auffang-, Förder- oder Vorbereitungsklassen werden Kinder aus Syrien, dem Irak und vom Balkan nicht nur in deutscher Sprache fit gemacht. Die Schüler werden wöchentlich mehr.

„Mais“ soll Jenda finden, aber dann liegt da eine Möhre: „Scheiße!“, sagt die Zwölfjährige, und was soll man auch sagen, wenn die Memory-Karten nicht zueinander passen wollen – und man bessere Wörter noch nicht kennt. „Gehört dazu, das lernen sie als erstes“, erklärt Lehrer Jürgen Parussel, der herzlich lachen muss, schon weil er weiß: Dieses Kind ist erst seit drei Monaten in Mülheim, und es hat zuvor Dinge erlebt, für die das Schimpfwort gar kein Ausdruck ist.

Mit der Weltkarte an der Wand

Parussel gibt Wirtschaftslehre an der Hauptschule am Hexbachtal, was in dieser Internationalen Vorbereitungsklasse (IVK) auch heißt: Er gibt Deutsch. „Ich mache das Existenzielle“, sagt der 54-Jährige, „Geld, kaufen, Lebensmittel“. Dafür hat er das Spiel mitgebracht, selbstgebastelte Karten in einer Butterbrotdose, und Juan aus dem Irak studiert jetzt die Gurke. „Was ist das?“ Das R aus der Mitte des Gemüses rollt durch den Raum; an der Wand hängt eine Weltkarte.

Aus Syrien kommen die Kinder, aus dem Irak, aus Eritrea und vom Balkan, sie werden derzeit wöchentlich mehr, wie überall im Land. Ein Drittel der Flüchtlinge ist schulpflichtig, Mülheim meldete zuletzt 650 „Schüler mit Förderanspruch als Seiteneinsteiger“ an die Bezirksregierung. 2014 waren es 312, bis Jahresende rechnet Martina Kleinewegen vom Kommunalen Integrationszentrum mit einer Verdreifachung. Weshalb die Stadt die IVK nun doch einführte: Zuvor hatte man Zuwanderer-Kinder noch in die Regelklassen integrieren können.

Die Flüchtlingskinder kommen mit schwerem Gepäck

Die Flüchtlinge aber kommen auch ohne Deutsch und dazu noch mit schwerem Gepäck. „Die belastende Flucht, Kriegserlebnisse, Tod und Folter. . .“ zählt Kleinewegen auf. „Ich hätte ja gar nicht den Kopf“, sagt Lehrer Parussel, „mich mit ,ich esse...’ und dem Akkusativ zu beschäftigen.“ Trotzdem ermuntert er das junge Gemüse in Raum 1: „Trau dich! Schön gesagt.“ Die Tomate. Der Kürbis. Aber: „Die Möhre klingt wie Murks.“

An die Tafel schreibt Jenda, deren Vater erschossen wurde, „ich trinke“. Und Roba, die auch erst zwölf ist und allein, „blass und ängstlich“ aus dem Irak kam, notiert „ich kaufe“. Das kleine a bekommt seinen Strich vor dem Bogen, viele der Kinder müssen erst alphabetisiert werden; wenn sie viel können, können sie arabische Zeichen. Zendra von den Seychellen spricht Kreolisch, schreiben hat das Mädchen von den Seychellen nie gelernt. Und Delschad mit seinen 17 Jahren war nie auf einer Schule, anders als sein kleiner Bruder Rokzan, mit dem er ohne Eltern aus dem Irak geflohen ist.

"Ich hause in Mülheim"

Einen Satz können diese Kinder nach wenigen Wochen schon gut: „Ich wohne in Mülheim.“ Ein Mädchen sagt: „Ich hause in Mülheim“, und vielleicht ist das gar nicht ganz falsch, wenn man bedenkt: Auch die Stadt an der Ruhr, die bisher auf Unterbringung in Wohnungen gesetzt hatte, musste längst Turnhallen räumen für die vielen, die derzeit kommen. Auch das, sagt Martina Kleinewegen, sei „belastend für die Familien“. Seit die Ferien vorbei sind, führt sie erstmals auch eine Warteliste für Schulkinder.

Noch allerdings muss keines lange warten. Diese Woche bekam das Hexbachtal fünf neue Schüler, „ich weiß morgens nie, wer mich erwartet“, sagt Klassenlehrerin Raphaela Matuszewski. Die insgesamt 18 Kinder in der IVK haben sie nach Deutschkenntnissen aufgeteilt, spätestens nach zwei Jahren sollen alle in die Regelklasse.

"Deutsch ist die Chance"

An ihrer Hauptschule sind die Flüchtlinge willkommen. „Bei uns ist es egal, welche Hautfarbe jemand hat, wir gehen normal miteinander um“, sagt Konrektorin Birgitta Strehlau. Die Hälfte ihrer Schüler hat ebenfalls Migrationshintergrund, im Fenster der ersten Etage hängt ein Satz von Adorno: „Die Wertschätzung von Vielfalt bedeutet, ohne Angst verschieden sein zu können.“

Mohammed aus Syrien ist seine Angst noch nicht los, neulich hat er in der Klasse erzählt, wie es war auf dem Boot im Mittelmeer. Nicht alle haben solche Geschichten mitgebracht, es passiert, dass Kinder plötzlich nicht mehr zur Schule kommen. Dann sind sie zurückgekehrt nach Hause. Die anderen versucht Lehrer Parussel „ans Laufen“ zu bringen: „Ich kann keine Arbeitsplätze schaffen“, aber vorbereiten auf einen Job, „die Visitenkarte des Lebens“. Die Kinder, das sagen alle am Hexbachtal, seien dafür „unheimlich dankbar“. Als wüssten sie, was Herr Parussel immer sagt: „Deutsch ist die Chance.“

Am Tisch haben Zendra und Juan endlich den Mais gefunden. Eine braune und eine weiße Hand klatschen sich ab.