Mülheim. Hunger, Not und das schwere Erbe von Diktatur und Krieg standen vor 70 Jahren Pate, als Gewerkschafter den demokratischen Neuanfang wagten.
„Als 1890 in Mülheim zum ersten Mal der Tag der Arbeit gefeiert wurde, mussten Arbeiter, die an der Maikundgebung teilnahmen, damit rechnen, auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden und ihre Arbeit zu verlieren“, erinnert DGB-Geschäftsführer Dieter Hillebrand an die Anfänge der Arbeiterbewegung. Als Gewerkschafter, wie Heinrich Melzer, Friedrich Müllerstein, Heinrich Pütz oder Johann Doetsch nur wenige Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner im April 1945 Kontakt zur Mülheimer Militärregierung aufnehmen, um mit ihren Vertretern über den Aufbau einer freien Gewerkschaftsbewegung und deren Ziele zu sprechen, wissen sie, was Verfolgung bedeutet.
Auferstanden aus Ruinen
Hinter ihnen lagen zwölf Jahre Nazi-Diktatur, in denen es keine freien Gewerkschaften, sondern nur eine staatlich gelenkte Deutsche Arbeitsfront gab. Heinrich Melzer, der zum ersten DGB-Vorsitzenden in Mülheim gewählt wird, wurde von den Nazis mehrfach inhaftiert. Andere Gewerkschafter, die vor 1933 kommunalpolitisch aktiv waren, wie Willi Müller, Fritz Terres, Otto Gaudig, Paul Meister oder Hans Kaiser mussten ihren Widerstand gegen Hitler mit dem Leben bezahlen.
Noch im April 1945 rufen die ehemaligen Gewerkschafter, zu denen auch Ernst Tommes, Kurt Thierbach, Willi Zimbehl oder Heinrich Gröscher gehören, eine antifaschistische Bewegung ins Leben. Sie beziehen im ehemaligen Haus des christlichen Metallarbeiterverbandes an der Bahnstraße und in einer Baracke an der Ruhrstraße ihr Quartier, organisieren Betriebsversammlungen und formulieren ihre politischen Ziele.
Zulassung freier Gewerkschaften
Die Arbeiter sollen in den demokratisch geführten und kontrollierten Betrieben mitbestimmen und die Schlüsselindustrien sozialisiert werden. Außerdem sprechen sich die Gewerkschafter der ersten Stunde für die Bildung von Kontrollausschüssen aus, die dafür sorgen sollen, alle aktiven Nazis aus den Führungspositionen in Wirtschaft, Verwaltung, Schule und Presse zu entfernen. Neben dem parteilosen Heinrich Melzer, der von 1922 bis 1933 die Geschäfte der Deutschen Arbeiterunion geführt hatte, wurden der Sozialdemokrat und vormalige Sozialdezernent Ernst Tommes und der christliche Gewerkschafter und Journalist Johann Doetsch zu den führenden Köpfen der neuen Gewerkschaftsbewegung, zu der auch Kommunisten, wie Friedrich Müllerstein gehörten.
Am 5. Juni 1945 gab die neue britische Militärregierung, die die Amerikaner in Mülheim abgelöst hatte, bekannt: „Freie Gewerkschaften werden zugelassen, Jedoch muss deren Tätigkeit mit demokratischen Mitteln ausgeführt werden. Die Gewerkschaften sollen nicht nur in beruflichen, wirtschaftlichen und sonstigen Aufgaben tätig sein, sondern auch die Erziehung des deutschen Volkes in freiheitlicher Lebensgestaltung und demokratischem Gedankengut fördern.“
1500 Männer und Frauen beim Start dabei
Als 1500 Männer und Frauen unter dem Vorsitz von Heinrich Melzer am 12. August 1945 im Speldorfer Tengelmann-Saal den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) aus der Taufe hoben, beschwor Ernst Tommes das neue Prinzip der Einheitsgewerkschaften, indem er bei der Versammlung feststellte: „Wir wollen alle arbeitenden Menschen zusammenfassen, um ohne parteipolitische Bindung für die Zukunft aller arbeitenden Menschen einzutreten und die große Not zu beseitigen.“ Die Gewerkschaften wollten sich, anders, als vor 1933 nicht mehr parteipolitisch aufspalten.
Neun Monate später folgten 10.000 Mülheimer dem Aufruf zur Maikundgebung 1946. Die fand damals an der Südstraße statt und forderte (so aktuell, wie heute) „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.“