Mülheim. . Walter Schmitz erlebte im April 1945 als neunjähriger Junge den Einmarsch der US-Soldaten. Er wurde sogar Zeuge eines Schusswechsels in der Stadt.
„Es muss am 10. oder 11. April gewesen sein, so genau weiß ich das nicht mehr“, sagt Walter Schmitz und denkt zurück an das Jahr 1945. Schon als kleiner Junge wohnte er damals mit seiner Familie in der Kurfürstentraße in Broich – in dem Haus, in dem er heute noch lebt. Bis auf das exakte Datum kann sich der 79-Jährige gut an die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in Mülheim erinnern. Besonders an ein Gefecht und seine erste Schallplatte.
In den letzten Kriegstagen zogen freigelassene Fremdarbeiter aus dem Internierungslager an der Bülowstraße plündernd durch die Nachbarschaft. Auch das kleine Lebensmittelgeschäft von Maria Dienstknecht an der Ecke Duisburger Straße/Haagerfeld/Schloßberg wurde nicht verschont. Nachdem die Plünderer die letzten Waren mitgenommen hatten, schauten wir Jungens im Laden nach, was es dort noch Brauchbares gab. Unsere Beute, Waschpulver, stopften wir in alte Tüten.
Schützenhilfe für deutschen Soldaten
Als ich mit meinen Freunden das Geschäft verließ, kamen uns flüchtende Menschen entgegen. „Die Amerikaner kommen!“, riefen die. Und dann sah ich sie – die Amis. Ein Trupp von bis zu 50 Soldaten marschierte langsam mit der Waffe im Anschlag von der Ruhr kommend durch die Broicher Eisenbahnunterführung. „Meine Freunde liefen davon, aber ich war neugierig, wollte wissen, was passiert. Ich versteckte mich hinter einer Mauer am geplünderten Lebensmittelgeschäft und behielt die Soldaten im Auge.
Dann die nächste Überraschung. Aus Richtung Speldorf kam auf der Duisburger Straße langsam ein deutsches Motorrad mit Beiwagen angefahren – und wäre wohl von den Amis bemerkt worden. Vorsichtig stieg ich aus meinem Versteck hervor und machte den Wehrmacht-Offizier, der im Beiwagen saß, mit Handzeichen auf mich und die drohende Gefahr in der Unterführung aufmerksam. Die Amerikaner waren damals ja der Feind, da musste ich nicht lange überlegen, was ich tue. Die Straße machte an dieser Stelle einen Knick, daher konnten die Amerikaner die zwei deutschen Soldaten, die mich bemerkt und angehalten hatten, nicht sehen.
Kugeln peitschten auf den Asphalt
Der junge Leutnant stieg aus und verschanzte sich mit einer Maschinenpistole in der Hand in dem geplünderten Tabak-Pavillon von Clemens Poppe an der Straßenecke. Von dort feuerte er mehrere Salven auf die vorrückenden Soldaten in der Unterführung. Aus meinem Versteck konnte ich das Mündungsfeuer erkennen. Die Kugeln peitschten auf den Asphalt in der Unterführung. Die aufgeschreckten Amerikaner erwiderten nur spärlich das Feuer.
Dann war plötzlich Ruhe, der Feind zog sich zurück. Der Leutnant kam vorsichtig aus dem Kiosk und winkte mir zum Dank, dann verschwand er mit seinem Kameraden auf dem Motorrad zurück in Richtung Speldorf. Ob es bei dem Schusswechsel Verletzte gab, weiß ich nicht. Ich traute mich und lief kurz danach zum Pavillon, sammelte einige Patronenhülsen auf. Die rochen so gut nach Pulver. Und für uns Jungens war alles, was mit Krieg zu tun hatte, ein richtiger Schatz.
Ich habe dann zugesehen, dass ich nach Hause komme. Als ich berichtete, dass ich die Ballerei, die in der ganzen Nachbarschaft zu hören gewesen war, gesehen hatte und statt Waschpulver nun Patronenhülsen mitgebracht hatte, war meine Mutter entsetzt. Auch mein Vater, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, war streng mit mir – doch irgendwie meinte ich, sogar ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen.
Soldate schenkte Schmitz die erste Schallplatte
Am folgenden Tag ging ein Lauffeuer durch die Kurfürstenstraße: Die Amerikaner stehen im Kassenberg. In der Nachbarschaft sorgte das für Aufregung, aber wir Jungens mussten da natürlich hin. Etwa dort, wo der alte Hohlweg auf den oberen Kassenberg mündete, standen Militärfahrzeuge in einer langen Reihe, deren Ende ich nicht sehen konnte. Alle Fahrzeuge waren mit Soldaten besetzt, alle sehr aufmerksam und zum sofortigen Aufbruch bereit.
Wir haben erstmal nicht schlecht gestaunt und uns nur langsam genähert. Einige Deutsche, vor allem Kinder und Jugendliche, hatten sich bereits zu den Amis vorgewagt. Die Soldaten waren fast alle freundlich, verteilten Kaugummis, Kekse, Schokolade und, für mich ein Novum, Käse in Dosen. Die Verständigung war schwierig, „come on boy, come on girl“ haben die Amerikaner gesagt und gestikuliert.
Wer war eigentlich Charlie Barnet?
Dann fiel er mir auf – ein baumlanger, pechschwarzer Soldat mit seinem Stahlhelm auf dem Kopf, der am Steuer eines offenen Lkw saß. Es war das erste Mal, dass ich einen Neger sah – ich schreibe bewusst Neger, weil ich das damals als Kind so empfunden habe, auch wenn der Begriff heute nicht mehr in Gebrauch ist.
Bis dahin kannte ich jedenfalls nur das kleine Negerlein auf der Kollektenkiste im Kindergottesdienst. Der Soldat muss wohl bemerkt haben, wie ich ihn staunend ansah und winkte mich zu sich heran. Vom Lkw herunter schenkte er mir eine 30 cm Schallplatte mit Swingtiteln von Charlie Barnet. So ein Ding, obwohl schon ziemlich zerkratzt, hatte ich noch nie in der Hand gehabt. Und wer war eigentlich Charlie Barnet?!
Ich sollte es erst Jahre später herausfinden, als ich sie auf einem selbstgebastelten Plattenspieler hörte. Die Platte habe ich noch heute, durch sie bin ich zum glühenden Jazzfan geworden und habe 1953 die Mülheimer Band Woodhouse Stompers mitgegründet. Zu dem Soldaten sagte ich damals einfach nur „danke“ und hoffte, dass er mich versteht. Kurz darauf fuhr die Kolonne davon.
Albert Zimbehl erlebte brenzlige Situation mit zwei US-Soldaten
Mein Vater sollte sich am 8. April 1945, drei Tage, bevor die Amerikaner in Mülheim einmarschierten, zum Volkssturm melden. Da er wegen eines schweren Herzfehlers nicht mehr über die Straße gehen konnte, gingen meine Mutter und ich mit seinen Papieren zur Erfassungsstelle im gegenüberliegenden Reichsbahnausbesserungswerk an der Duisburger Straße. Der dortige Arzt sah sich die Befunde – schon mit einem EKG erstellt – an und sagte: „Drei Tage zurückgestellt.“ Mein Vater meinte später nur: „Das kann schon bis zum Kriegsende reichen.“
Und so geschah es. Am 11. April sah ich nach dem Aufstehen durch das Fenster des Kellers, in dem wir nachts zur Sicherheit schliefen, ein Beinpaar in richtigen Lederschnürstiefeln mit einer bräunlichen Uniformhose. Ich schlug Alarm bei Vater. Der sagte nur: „Legt euch wieder hin und schlaft euch aus. Der Krieg ist aus. Wir sind jetzt in Amerika!“ Da ich am 10. April Geburtstag habe und damals acht Jahre alt wurde, blieb mir der darauffolgende Tag immer im Gedächtnis.
Friedenszeit war nicht leichter als der Krieg
Der Frieden, der nun folgte, war auch keine einfache Zeit. Eine amerikanische Streife ging von Haus zu Haus und suchte die Wohnungen ab, so auch unsere Bleibe in der Duisburger Straße 81. Wonach man suchte, wurde nicht gesagt, weil die GIs kein Deutsch und wir kein Englisch konnten. Statt Worten stießen die beiden Soldaten nur quakende Laute aus. Die Amis schauten in jedes Zimmer und alle Schränke.
In einem Raum fanden sie die Uniform eines Oberlokführers der Bahn, die unserem Hauswirt gehörte, bei dem wir untergekommen waren. Die fremden Soldaten vermuteten dahinter eine Militäruniform und setzten meinem Vater die Dienstmütze auf. Da er im Vergleich zu unserem Hauswirt ein schmächtiger Mann war, fiel ihm die Mütze auf die Ohren, wodurch klar wurde, dass er nicht der Träger sein konnte.
Somit überstanden wir diese brenzlige Situation unbeschadet. Von der Rot-Kreuz-Uniform meiner Schwester stahlen unsere Befreier aber noch die Halsbrosche. Als sie gingen, malten sie mit gelber Ölkreide ein „OK“ an die Haustür. In der Folge wurde es nicht einfacher. Im Krieg gab es oft schlechte Speisen, aber wir hungerten nicht, das wurde im Frieden anders. Diese Hungerzeit werde ich nie vergessen.