Mülheim. Ein russischer Sender interviewte Werner Winkler: Der Mülheimer Zeitzeuge berichtet über seine Erinnerungen an anderthalb Jahre in einem russischen Lager.
Für das russische Kamerateam des staatlichen Kultursenders „TV Kultura“ war es nicht der erste Drehtermin über die Jahre des Zweiten Weltkriegs. Dank der Berliner Zeitzeugenbörse konnten sie zu dem Mülheimer Werner Winkler Kontakt aufnehmen, der als Jugendlicher anderthalb Jahre in einem russischen Lager verbracht hat. Aber noch vor Beginn des Interviews am Donnerstag gibt es für den Zeitzeugen Winkler eine Überraschung:
Das Team hatte zu Recherchezwecken für die Dokumentation mit dem Arbeitstitel „Zeit der Versöhnung“ Zugang zum Militärarchiv erhalten und die Lagerakte des 85-jährigen Mülheimers gefunden – und diese in Kopie in den Sommerhof mitgebracht. „Dass es darüber überhaupt Unterlagen gibt, da staune ich!“, ist der Senior beeindruckt, und fügt leise hinzu: „Die Menschen sind doch damals nur zusammen gepfercht worden und so viele sind gestorben.“
Die Unterlagen könnten für ihn sogar von Nutzen sein, denn seine Internierungszeit sei vom Deutschen Rentenversicherer nie anerkannt worden. „Das könnte sich mit dem Dokument möglicherweise ändern“, gibt Brigitte Reuß von der Mülheimer Zeitzeugenbörse zu bedenken.
Während das russische Team für den dritten Teil der Dokumentationsreihe über die Kriegserinnerungen Deutscher noch Kamera und Beleuchtung aufbaut, erzählt Werner Winkler schon von seinen Erlebnissen, die ihn bis heute nicht losgelassen haben. In Schlesien geboren, wurde er im Alter von 15 Jahren mit vielen anderen Menschen nach dem Einmarsch der russischen Armee von den Soldaten verschleppt und in ein Lager in Winniza auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gebracht, aus dem er nach anderthalb Jahren im Spätsommer 1946 krank und ausgezehrt frei kam.
Die deutsch sprechende, wissenschaftliche Betreuerin der Filmgruppe, Dr. Tatiana Timofeewa, beginnt das Gespräch sehr einfühlsam, denn Werner Winkler ist sichtlich aufgeregt. Er berichtet jedoch sehr klar von der Zeit, erinnert sich an jedes noch so kleine Detail.
Koffer voller Erinnerungsstücke
Mitgebracht hat er eine handgemalte Landkarte, die alle Stationen seiner Odyssee zeigt, und einen alten Koffer mit Utensilien, die ihn an seine Leidenszeit erinnern: Ziegelsteine und eine Blechdose dienten ihm als provisorische Kochstelle, ein dünnes Tuch zum Abtrocknen oder als Schal. In einen Holzstock hat er die genauen Daten seiner Leidenszeit eingeschnitzt.
Winklers Erzählungen sind gespickt mit russischen Ausdrücken, an die er sich präzise erinnert. Die nicht deutschsprachigen Mitglieder des Teams verstehen dann, worüber er erzählt. Obwohl die Zeit für Winkler voller Entbehrungen war, betont er die Freundlichkeit der russischen Bevölkerung. Eine bitterarme Bäuerin habe ihm etwas zu essen gekocht, bei Markthändlerinnen konnte er während der schweren Arbeitsdienste am Gleisbau etwas Nahrung erbetteln, wofür er prompt von der Lagerleitung in einen dunklen und kalten Kellerraum gesperrt wurde. Als er dann 1946 endlich seine Mutter in Sachsen wiederfand, denn „in Schlesien war ja der Pole“, war die Zeit der Entbehrungen und des Hungers noch lange nicht vorbei.
Seit Gründung der Mülheimer Zeitzeugenbörse im November 2011 treffen sich an jedem dritten Mittwoch im Monat von 10 bis 12.30 Uhr zwölf bis 16 Personen im Sommerhof, Tourainer Ring 12, Eingang Hingbergstraße, zum gemeinsamen Kennlernen und Austausch.
Weitere Zeitzeugen werden gesucht. Mehr Infos unter www.unser-quartier.de/zzb-muelheim, der Nummer der Vereins „Pariaktiv“, Tel. 30680-0 oder: Zeitzeugenboerse@gmx.de