Mülheim. . Am Heilig Abend vor 70 Jahren griff eine Bomberflotte der Royal Air Force den Flughafen Essen-Mülheim an – und traf dabei auch den nahen Hochbunker. Bis zu 280 Menschen starben.
Das Unheil kam sprichwörtlich aus heiterem Himmel über die Stadt: An Heiligabend 1944, vor 70 Jahren, erlebte die Stadt mit dem Luftangriff auf den Flughafen ein Inferno, das nur von der schlimmen Bombennacht auf den 23. Juni 1943 übertroffen wurde.
Um 14.05 Uhr heulten die Sirenen, nur drei Minuten später kündete Luftalarm die heranfliegende Bomberflotte an. Die Alliierten steuerten mit 169 Bombern gezielt den Flughafen an, der als Fliegerhorst der Tage zuvor gestarteten Ardennenoffensive der deutschen Wehrmacht diente. Geladen hatten sie die tödliche Fracht von 2400 Spreng-, 50 Minen- und 120 Stabbrandbomben. In nicht einmal zehn Minuten entfachten sie einen Bombenhagel, der bis zu sieben Kilometer rund um den Flughafen niederging, etwa am Bahnhof, wo ein Treffer die Bahnlinie Styrum-Kettwig unterbrach, oder am Pfälzer Weg, am Oemberg und rund um den Klostermarkt in Saarn.
„Es blieb gerade noch so viel Zeit, die Stahlhelme aufzusetzen“
„Es blieb gerade noch so viel Zeit, die Stahlhelme aufzusetzen und in die Einmannlöcher zu springen“, berichtete 1984 Zeitzeuge Karl Stangenberg. Im nahen zweigeschossigen Hochbunker an der Windmühlenstraße suchten nicht nur die Bewohner der Flughafen-Siedlung Schutz, sondern auch Soldaten und Menschen aus der Umgebung. 500 bis 600 Menschen sollen im Bunker Unterschlupf gesucht haben.
Der Bunker, der noch über eine Mauerstärke von nur 1,40 Metern verfügte, erlitt einen Volltreffer. Eine panzerbrechende Bombe raste durch die Decke und zündete zeitverzögert. Viele der Schutzsuchenden, die dicht beieinander ausharrten, wurden bei der Detonation getötet. Mit Betonteilen stürzten Tote und Schwerstverletzte durch die Zwischendecke ins Untergeschoss. Schätzungen zufolge ließen 220 bis 280 Menschen an diesem Tag im Bunker ihr Leben, darunter 50 Mülheimer.
„Verletzte lagen unter den Toten“
„Verletzte lagen unter den Toten. Der Bunker war mit Betonstaub gefüllt, der auch nach Stunden nicht weniger zu werden schien, man konnte fast nichts sehen“, erinnerte sich Luftwaffen-Pilot Walter Merzenich später. „Da war ein riesiger Haufen Verwundete und Schwerverletzte. Das war gar keine Überlegung, man griff sofort zu. Wo jemand noch atmete, den hat man dann zu viert rausgetragen und auf den gefrorenen Boden gelegt. Es blieb uns ja nichts anderes übrig. Es kam ja keine Hilfe aus der Stadt. Wir haben fast zwei Stunden lang auf uns alleine gestellt gearbeitet.“
Im Arbeitserziehungslager am westlichen Rand des Flughafens, das es seit 1941 gab, waren die Häftlinge an diesem Heiligen Abend, wie bei jedem Luftangriff, völlig schutzlos dem Bombenhagel ausgesetzt. In den Hochbunker durften sie nicht, auch das Lager wurde an diesem frühen Nachmittag teilweise zerstört. Mehrere Menschen starben, eine Quelle spricht von vier, eine andere von elf Opfern.
Kindern im Haus Jugendgroschen half der Zufall
Historiker Thomas Emons beschrieb derweil auch das Glück der Kinder, die zu jener Zeit als Patienten im Haus Jugendgroschen, einem provisorisch eingerichteten Kinderkrankenhaus, untergebracht waren. Das Haus erlitt am Heiligen Abend auch einen Volltreffer. Ein Glück, dass die Kinder zu einer Weihnachtsfeier in der Nachbarschaft eingeladen waren.
Emons berichtete auch von einer „Ironie und Tragik“, die dem konzentrierten Luftangriff auf den Flughafen innewohnte. Denn die deutschen Militärflugzeuge trafen die Bomber der Royal Air Force nicht. Diese waren gut getarnt in einem Waldstück außerhalb des Flughafengeländes versteckt.
„Ein Berg von Toten lag unter der Einschlagstelle“
Historiker Elmar Wiedeking, gebürtiger Mülheimer mit aktuellem Wohnsitz in Süddeutschland, hat mit seinen fortwährenden Forschungen zum Luftkrieg über Mülheim einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels der Stadtgeschichte geleistet. Aus seinem Beitrag für das Mülheimer Jahrbuch 2005 stammen folgende Zeitzeugen-Berichte.
„Bald darauf hörten wir, dass der Bunker getroffen worden sei. Vor Angst zitterte ich am ganzen Körper. Horst rannte zum Bunker, um nach Mutter und den Geschwistern zu schauen. Lange kam Horst nicht zurück.“
Ursel Knippenberg (2003)
„Soldaten, die die Explosion überlebt hatten, bildeten Gruppen zu vier Personen, die zunächst versuchten, die Verletzten zu bergen. Sie mussten sie unter Leichen und Betonteilen hervorziehen, ohne genau sehen zu können, was oder wer gerade vor ihnen lag. Rettungsmannschaften sind erst später hinzugekommen.“
Walter Merzenich (2003)
„Nie werde ich den Nachmittag des Heiligabends 1944 vergessen. Aus dem Vorraum zur Toilette im Untergeschoss [im Bunker] brachte mich mein Vater nach draußen. Wir kletterten über Berge von Schutt und mussten auch die Stelle des Bombeneinschlags passieren, um den Ausgang zu erreichen. Ein Berg von Toten lag unter der Einschlagstelle im breiten, mit Bänken versehenen Mittelgang. Dieser furchtbare Anblick hat sich so tief in mein Gedächtnis eingegraben, dass ich noch heute das Bild vor mir sehe. Vater ging dann wieder zurück in den Bunker, um meine Mutter zu suchen. In der Nähe unserer Zelle fand er sie, Gott sei Dank nur leicht verletzt. Draußen sahen wir die vielen toten Menschen, die inzwischen nebeneinander rund um den Bunker niedergelegt waren. Es waren viele bekannte Gesichter darunter. Wir verließen den grauenvollen Ort und sahen die vielen stark beschädigten Häuser. Hinter glaslosen Fenstern standen geschmückte Weihnachtsbäume. Nun hatte unsere Familie weder eine Bleibe noch einen Luftschutz.“
Kurt Schmitz (2003)