Herne. Raus aus dem Saal, rein ins Leben: Die Herner SPD hat ihren Parteitag unter freiem Himmel in der City durchgeführt. So lief das Experiment.

Fragende Gesichter, jede Menge fragende Gesichter am Mittwochabend auf der Bahnhofstraße vor dem City-Center. Eine kleine Bühne, jede Menge SPD-Logos und Menschen, die auf klassischen Biertischgarnituren sitzen. Was ist da los? Die Antwort „Europawahlkampf“ ist in diesem Fall nur teilweise korrekt. Die Herner SPD hat die heiße Phase des Wahlkampfs zum Anlass genommen, um nah die Menschen zu rücken - mit einem Open-Air-Parteitag.

Delegierte absolvieren zuerst trockene Formalien

Nun sind die Parteitage grundsätzlich offen für jedermann, doch die Erfahrung hat gezeigt, dass die Parteimitglieder - egal welcher Couleur - weitestgehend unter sich bleiben, wenn sie im Saal stattfinden. Also hat die SPD beschlossen, raus zu jedermann zu gehen, um die Demokratie bei der Basisarbeit zu zeigen. Und schnell wird offensichtlich, dass die Sozialdemokraten keine Effekthascherei betreiben. So werden die Passanten Zeuge, wie zunächst trockene Formalien abgehakt werden: Die Delegierten stimmen über der Tages- und Geschäftsordnung ab und wählen ein Präsidium für den Parteitag - das dann auch auf der Bühne Platz nimmt.

Zwei Parteimitglieder haben sogar Anträge eingereicht: einer zu den Zahlungsbedingungen des Bürgergelds, der zweite fordert die Einführung eines Startersets für Neugeborene nach finnischem Vorbild. Beide Anträge erhalten die Zustimmung und werden an den Bundesparteitag der SPD weitergeleitet.

Jochen Ott, Vorsitzender der SPD-Fraktion im NRW-Landtag, bei seiner Rede.
Jochen Ott, Vorsitzender der SPD-Fraktion im NRW-Landtag, bei seiner Rede. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Für die Zufallszuschauer auf den Bänken und vor dem Eiscafé muss dieses Treiben seltsam anmuten. Das Interesse daran? Ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Zwei Frauen, die auf einer Bank ihr Eis essen, lassen den Parteitag quasi über sich ergehen. Nein, für Politik interessieren sie sich nicht. Und der Open-Air-Parteitag ist ganz offensichtlich für diese beiden nicht dazu geeignet, ein Interesse zu wecken. Anders sieht es bei Jeanette und Olaf Hahne aus. Die Herner sind an diesem Abend mit dem Rad unterwegs und stoppen spontan, als sie die Veranstaltung sehen. Ein Parteitag? „Das ist doch eine gute Idee. Das ist nahbar“, sagt Jeanette Hahne. Und als Jochen Ott, SPD-Fraktionsvorsitzender im NRW-Landtag, eine neue Kinder- und Schulpolitik fordert, applaudiert sie.

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Otts Rede ist der klassische Wahlkampfanteil dieses Parteitags. Ganz offensichtlich hat er sie in Teilen auf Herne zugeschnitten - so erwähnt er das „Wunder von Herne“, über das die Wirtschaftswoche geschrieben hat, auch die Pläne für die Brache Blumenthal sind Bestandteil. Neben dem Plädoyer für die EU nutzt Ott die Gelegenheit für Kritik an der NRW-Landesregierung - und löst das Versprechen der Herner SPD ein, dass sie eine Partei zum Mitmachen sei. Zwei augenscheinlich normale Bürger wagen sich ans Mikro, unter anderem mit der Forderung nach einem Mindestlohn für Beschäftigte in der Behindertenwerkstatt. Ott antwortet ausführlich und verspricht: „Wir kämpfen an Eurer Seite.“

Neuauflage im kommenden Jahr ist fest eingeplant

Nach den Angriffen auf Wahlkämpfer in den vergangenen Wochen kann man das Experiment der Herner SPD durchaus als gewagt bezeichnen, doch Zwischenfälle blieben gänzlich aus. Deshalb bezeichnete Parteichef Hendrik Bollmann das Experiment als gelungen. Schon während des Aufbaus am Nachmittag sei man mit den Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch gekommen. Das Feedback im Anschluss sei positiv gewesen. Doch man dürfe sich nichts vormachen. „Es wird einige Jahre dauern, um sich bei den Menschen das Vertrauen in Politik zurückzuholen. Demokratie ist Vertrauensarbeit.“ Deshalb sei schon jetzt klar, dass diese Art des Parteitags nicht nach der Premiere eingestellt werde. Im nächsten Jahr sei eine Neuauflage fest eingeplant, wahrscheinlich mit ein paar Justierungen, wie einer früheren Anfangszeit, um mehr Menschen zu erreichen.