Herne. Ein Junge (10) hat nach einem Unfall an einer Herner Schule lange mit dem Tod gerungen. Wer ist schuld? Die Eltern kritisieren Stadt und Schule.

  • Samuel (10) aus Herne hat sich auf dem Schulhof der Mont-Cenis-Gesamtschule lebensgefährlich verletzt.
  • Die Eltern Mario und Nadine Scheler sind enttäuscht und verbittert über Stadt und Schule.
  • Psychisch und physisch ist das Kind ein Jahr nach dem Unfall noch immer eingeschränkt.

Von einer Minute auf die andere wird das Leben der Familie Scheler aus Herne aus den Angeln gehoben. Grund ist ein Unfall von Sohn Samuel (zehn) auf dem Schulhof der Mont-Cenis-Gesamtschule. Der Fünftklässler kommt auf die Intensivstation, die Eltern bangen tagelang um sein Leben. Die gute Nachricht: Samuel überlebt. Aber er leidet bis heute, über ein Jahr später, an den Folgen des Unfalls. Die Eltern Mario und Nadine Scheler sind enttäuscht und entsetzt, ja verbittert über das vermeintliche Verhalten von Stadt und Schule. Eine Schuld wollten diese nicht einräumen, nicht mal Mitgefühl zeigten sie, kritisieren sie. Im Gegenteil: „Wir werden links liegengelassen“, sagt der Vater.

Es ist die dritte Unterrichtsstunde an jenem Vormittag im September 2022, als die Katastrophe passiert. Der Sportunterricht, erzählen die Eltern, wird kurzerhand auf den Schulhof verlegt. Die Schülerinnen und Schüler bekommen Bälle, mit denen sie spielen sollen. Samuel, erst vor wenigen Wochen von der Grund- auf die Gesamtschule gewechselt, macht mit. Dann landet ein Ball hinter einem der vielen Bauzaun-Elemente, die seit Jahren um das marode Schulgebäude herum aufgestellt sind. Das Kind bückt sich, will den Ball mit der Hand greifen. Da bohrt sich ein zentimeterlanger Metallstift, der aus dem Zaun herausragt, in seine Stirn.

Herne: Immer wieder kommt es zu Komplikationen

Dieser Metallstreb, so die Eltern, habe sich in den Kopf des Kindes gebohrt.
Dieser Metallstreb, so die Eltern, habe sich in den Kopf des Kindes gebohrt. © Mario Scheler

Blut fließt. Die Mitschülerinnen und Mitschüler holen den Lehrer, erzählen die Eltern. Samuel kommt in ein Krankenhaus nach Gelsenkirchen, dort direkt auf die Intensivstation. Diagnose: Hirnblutung, Schädelfraktur, Schädel-Hirn-Trauma. Das Leben des Jungen hängt am seidenen Faden. Und es wird nicht besser: In den nächsten Tagen und Wochen treten immer wieder Komplikationen auf, darunter eine Gehirnhaut-Entzündung, ein Abszess und Gallenblasen-Koliken. „Mehr als einmal stand sein Leben auf der Kippe“, sagt Vater Mario (42). Er und seine Frau Nadine (40) sind, wann immer es geht, an der Seite ihres Jungen. Beide kennen sich aus: Er ist pflegerischer Gesamtleiter der Anästhesie einer Klinik im Ruhrgebiet, sie ist Intensivschwester in derselben Klinik. Dann endlich bessert sich Samuels Zustand. Insgesamt sechs Wochen liegt er auf der Intensivstation. Nun beginnt die Reha.

Wie kann so ein Unfall passieren? Vater Mario hat kurz nach dem Unfall den Bauzaun und den losen Metallstreb fotografiert und verlangt Antworten von Stadt und Schule. Der Sohn sei selbst schuld, habe ihm eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung mitgeteilt. Was habe der Junge auch an dem Zaun zu suchen? Überhaupt: An den Zäunen seien doch Warnschilder angebracht.

Zum Zeitpunkt des Unfalls, kritisieren die Eltern, seien die Bauzäune nicht alle verbunden gewesen. Es sei für die Schülerinnen und Schüler deshalb ein Leichtes gewesen, in diesen Bereichen hinter die Zäune zu gelangen. Auch habe es dort keine Warnhinweise gegeben.
Zum Zeitpunkt des Unfalls, kritisieren die Eltern, seien die Bauzäune nicht alle verbunden gewesen. Es sei für die Schülerinnen und Schüler deshalb ein Leichtes gewesen, in diesen Bereichen hinter die Zäune zu gelangen. Auch habe es dort keine Warnhinweise gegeben. © Mario Scheler

Stimmt nicht, sagt der Vater, der auf seine Fotos verweist. Darauf sind keine Schilder zu sehen. Erst nach dem Unfall, erklärt Mario Scheler, seien Schilder an den Zäunen angebracht worden. Und nicht nur das: Auch die Bauzäune seien nach der Verletzung erneuert, und später, als die Unfallkasse selbst diese als nicht ausreichend eingestuft habe, noch einmal gegen festinstallierte ausgetauscht worden. Eine Entschuldigung, ein Wort des Mitgefühls von Stadt oder Schule? Fehlanzeige, klagen die Eltern. Sie hätten ihr Kind in die Obhut der Schule gegeben, dort habe es sich lebensgefährlich verletzt und allein Schweigen und später Vorwürfe seien die Reaktion der Verantwortlichen gewesen. „Alles in allem hat man das Gefühl, dass der Unfall vertuscht und die Schuld einfach auf den Schultern unseres zehn Jahre alten Sohnes belassen werden soll“, sagt Mutter Nadine (40).

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Die WAZ hat bei der Stadt nachgefragt. Warum stand an der betreffenden Stelle nur ein einzelnes Zaunelement? Warum ragte dort ein Metallstift heraus? Werden die Zäune regelmäßig kontrolliert? Wurden die Warnhinweise vor oder erst nach dem Unfall aufgehängt? Und wurde der Bauzaun nach dem Unfall und später nach dem Eingreifen der Unfallkasse noch einmal erneuert? Das Rathaus will diese Fragen nicht beantworten. „Wegen des noch nicht abgeschlossenen Schadenregulierungsverfahrens in dieser Angelegenheit wird die Stadt Herne derzeit keine Stellungnahme abgeben“, so Stadtsprecher Christoph Hüsken.

Wie geht es Samuel heute? Er habe sich gefangen und den Unfall mehr oder weniger gut verarbeitet, sagen die Eltern. Psychisch und physisch sei er aber noch immer eingeschränkt. Das vergangene Jahr sei hart gewesen. „Vieles ist weg, er musste und muss noch viel neu lernen“, sagt Mutter Nadine. Darunter ganz alltägliche Sachen wie waschen oder anziehen. Hinzu kommen Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme, immer wieder Kopfschmerzen.

Vorwurf: Schule war keine Hilfe

Seit vielen Jahren umzäunt: die marode Mont-Cenis-Gesamtschule in Sodingen, hier ein Bild von 2018.
Seit vielen Jahren umzäunt: die marode Mont-Cenis-Gesamtschule in Sodingen, hier ein Bild von 2018. © FUNKE Foto Services | Sabine Hahnefeld

Die Mont-Cenis-Gesamtschule sei in den Monaten nach dem Unglück keine Hilfe gewesen. „Die Lehrer haben sich nicht für ihn interessiert“, klagt der Vater. Kein Wort des Bedauerns, des Mitgefühls, der Anteilnahme. Gesprächen mit den Eltern seien die Verantwortlichen aus Stufen- und Schulleitung ausgewichen, das Kind sei kaum bis gar nicht gefördert worden. Konkret: Zwei- bis dreimal habe es eine Eins-zu-Einsbetreuung gegeben – für gerade mal eine Stunde, durch eine andere Schülerin. Hinzugekommen sei dann auch noch Mobbing von Klassenkameradinnen und Kameraden, die das eingeschränkte Kind drangsaliert hätten. Lehrerinnen und Lehrer hätten selbst da nicht ausreichend eingegriffen. Auch ein Klassenwechsel, den die Eltern forciert hätten, habe nichts gebracht. Nur noch mit Bauchschmerzen sei der Junge in die Schule gegangen. Die Eltern ziehen die Reißleine, nehmen ihn von der Schule.

Die Vorwürfe will die Gesamtschule nicht stehenlassen. „Der Fall um den kleinen Samuel Scheler hat mich und die Kolleginnen und Kollegen emotional sehr beschäftigt“, sagt Schulleiterin Sylke Reimann-Pérez gegenüber der WAZ. Die Schule habe sich nach seiner Rückkehr „intensiv und auch sehr empathisch um ihn gekümmert“. Auch habe er „alle Unterstützungsmöglichkeiten, die wir als Schule bieten konnten, erhalten“. So habe ihm die Schule die Möglichkeit eröffnet, die Klasse zu wechseln, „weil er sich in seiner angestammten Klasse tatsächlich nicht mehr so wohlfühlte“. In der neuen Klasse habe er zeitweise eine Einzelbetreuung während des Unterrichts erhalten. „Lehrkräfte und Mitschülerinnen und Mitschüler kannten seine Situation und nahmen Rücksicht“. Als Schulleiterin habe sie im Austausch mit den Eltern gestanden und habe sie beraten. „Leider hat Samuel dann auf Wunsch der Eltern die Schule gewechselt, was wir sehr bedauern“, so Reimann-Pérez abschließend.

Der Fall habe sie und ihre Kolleginnen und Kollegen emotional sehr beschäftigt: Schulleiterin Sylke Reimann-Pérez, hier bei einer Elternveranstaltung.
Der Fall habe sie und ihre Kolleginnen und Kollegen emotional sehr beschäftigt: Schulleiterin Sylke Reimann-Pérez, hier bei einer Elternveranstaltung. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Mittlerweile hat Samuel die Schule gewechselt – und es gehe ihm dort jeden Tag besser. „Er geht jetzt gerne in die Schule“, sagt Vater Mario. Der mittlerweile Elfjährige habe Spaß, sei in die Klasse integriert, er erhalte endlich Hilfe von den Pädagoginnen und Pädagogen und bekomme sogar gute Noten. Die Eltern hoffen, dass der Elfjährige weiter Fortschritte macht und das Unglück am Ende unbeschadet übersteht.

Was in jedem Fall bleibe, das sei aber die Verbitterung über Stadtverwaltung und Schule. Von den Verantwortlichen sind sie zutiefst enttäuscht. Jeder Art von Menschlichkeit sei bei ihnen auf der Strecke geblieben. So habe beim Abschied aus der Schule kein Lehrer mehr ‘Tschüss’ oder ‘Alles Gute’ gesagt: „Die haben uns nicht mal mehr angeschaut“, so der Vater. Und die Stadt, die schweige. Über einen Anwalt will die Familie nun wissen, wer die Zäune damals aufgestellt hat. Auf Schadenersatz hätten sie nicht geklagt. Sie wollten nur wissen, wie das Ganze passieren konnte – „damit so was nicht mehr passieren kann und damit wir abschließen können“.