Herne. Mara hat einen seltenen Gendefekt. Sie bleibt auf dem Entwicklungsstand eines Säuglings. Sie wird sterben – bis dahin soll sie glücklich sein.

Mara lächelt. Ihre Augen schauen ihrem Bruder Jannik hinterher. Wie macht der Hahn? Kikeriki! Die Zweieinhalbjährige scheint zu grinsen. Viel mehr kann sie nicht. Die Arme und Beine hängen schlapp herunter. Mara ist mit ihren Fähigkeiten auf dem Entwicklungsstand eines fünf Monate alten Babys. Sie leidet unter einem seltenen Gendefekt, viel seltener als ein Hauptgewinn im Lotto. Sie wird irgendwann an den Folgen der Krankheit sterben. Ihre Eltern versuchen, Maras Leben so normal und gut wie möglich zu gestalten.

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Die Muskeln sind schlaff – die Eltern haben Angst vor dem nächsten Infekt

Mara aus Herne hat den seltenen Gendefekt Trapp C11: Bruder Jannik (7), Mutter Jill Bodner (33), Mara (2) und Vater Pierre Bodner (35).
Mara aus Herne hat den seltenen Gendefekt Trapp C11: Bruder Jannik (7), Mutter Jill Bodner (33), Mara (2) und Vater Pierre Bodner (35). © WAZ | Arne Poll

„Wir sind froh, wenn es so bleibt, wie es jetzt ist“, sagt Jill Bodner. Die 33-Jährige und ihr Mann Pierre haben sich abgewöhnt, so wie andere Eltern auf jeden nächsten Entwicklungsschritt des Kindes hinzufiebern. Den wird es bei Mara nicht geben. Sie isst Babybrei, wird wohl nie sprechen können. Maras Muskeln sind schlaff. Sie werden nicht richtig versorgt. Dystrophie nennt man das. Irgendwann wird die Dystrophie auch auf Lunge und Herz übergehen. Und dann ist da die Angst vor jedem Infekt, der lebensbedrohlich sein kann. Jill Bodner schaut schon wieder mit Unbehagen auf jedes Husten: „Der Sommer war gut. Aber ich habe schon wieder Panik vor dem Herbst und dem Winter.“

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Mara sitzt in einem Spezialstuhl. Sie kann sich nicht einmal alleine drehen, kann diese Fähigkeiten wieder verlieren. Trapp C11 heißt der laut Eltern mit höchster Wahrscheinlichkeit vorhandene Gendefekt, der im Detail sehr schwierig zu beschreiben ist. Eine kleine Gruppe Wissenschaftler hatte im Jahr 2013 erstmals über die Muskelerkrankung geschrieben. Bei den wenigen bekannten Fällen handelte es sich um blutsverwandte Eltern in syrischen Familien und einer kleinen Glaubensgruppe. Das Risiko bei Jill und Pierre Bodner, auf die diese Kriterien freilich nicht zutrafen, war noch einmal ein Stück geringer.

„Es ist ein unwahrscheinlicher Zufall, dass wir uns gefunden haben“, sagt Jill Bodner. Sie und ihr 35-jähriger Mann haben offensichtlich die seltene Veranlagung, die im noch selteneren Fall des Zusammentreffens zu dem Gendefekt führen kann. Und selbst dann hatte Mara nur das Risiko von 25 Prozent auch wirklich zu erkranken. Bruder Jannik ist gesund.

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Sicherheit bei der Diagnose erst nach acht Monaten

Bis zur Diagnose, die immer noch nicht 100-prozentig ist, dauerte es lange. „Mir ist es selbst eine Stunde nach der Geburt aufgefallen, dass etwas mit ihrem Auge ist“, sagt Jill Bodner. Das sei damals als Schwellung abgetan worden. Auch beim Wickeln an den Tagen danach sei immer etwas aufgefallen. „Dass etwas war, habe ich gesehen, aber das Ausmaß war mir nicht klar“, sagt Pierre Bodner. Erst im Alter von acht Monaten wurde dann der Gentest gemacht, der die Ärzte auf die Spur der seltenen Erkrankung brachte. Auf dem Papier ist die Diagnose selbst heute erst zu 98 Prozent sicher, erklären die Eltern.

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Jill und Pierre Bodner geben sich Mühe, nicht nur das Schicksal im Blick zu haben. „Sie soll ein gutes Leben haben“, betonen beide. Mara geht in einen Kindergarten der Lebenshilfe. Beide Eltern arbeiten. Jill Bodner ist selbst Heilerziehungspflegerin. Zum Urlaub geht’s meist nur in die Nähe, mit ausreichender medizinischer Versorgung und des Gepäcks wegen. Neben dem Stuhl muss die eigene Badeliege mit. Das Auto ist dann immer bis unters Dach voll. Beide wünschen sich ein größeres Auto. Aber das ist nicht so leicht zu finanzieren.

Selbsthilfegruppe & Spendenaktion für Mara

Jill Bodner hat gemeinsam mit einer anderen Mutter die Selbsthilfegruppe Querbeet für Eltern von Kindern mit besonderem Förderbedarf gegründet. Das Eltern-Kind-Treffen findet jeden Donnerstag zwischen 16.30 und 18 Uhr in der Kita Phantasia am Juri-Gerus-Weg 11 in Herne statt. Eltern werden gebeten, nur die eigene Ausstattung für ihr Kind mitzubringen.

Auf einer neu eingerichteten Spendenseite bitten die Eltern jetzt um Spenden, um ein behindertengerechtes Auto anschaffen zu können. Das Auto soll im Idealfall über eine Rollstuhlrampe verfügen. Die Aktion läuft über den Anbieter Spendenseite. Zur Aktion geht es hier (externer Link!)

Paarzeit für die Eltern – viele haben Angst, alleine Babysitter zu sein

Vergangene Woche war die Familie zu Besuch im Wuppertaler Kinderhospiz Burgholz. Für die Familien geht’s da nicht in erster Linie um den Tod, sondern ums Leben. Dort zieht die ganze Familie übers Wochenende ein, man kümmert man sich um Mara, damit Mama und Papa mal Paarzeit füreinander haben. Denn dass die Familie funktioniert, ist wichtig. Auch Bruder Jannik, der sich so liebevoll um seine Schwester kümmert, braucht Aufmerksamkeit. „Wir haben keinen normalen Alltag“, sagt Pierre Bodner. Die Hilfsbereitschaft sei groß, aber kaum jemand wolle mal alleine mit Mara bleiben. „Viele haben Angst. Ich kann das nachvollziehen.“

Mara krampft ein paar Mal am Tag. Ihre Eltern fürchten eine Lungenentzündung, die alles auf Dauer verschlechtern könnte. Aber es gibt auch positive Signale: Zwei Corona-Infektionen hat sie gemeistert, ohne dass sich noch Schlimmeres angeschlossen hätte. Dann ist da auch noch der dauerhafte Kampf mit den Behörden. Sei es das Warten auf den Behindertenausweis. Oder die Krankenkasse, die den wichtigen Stuhl nicht bezahlen will.

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Instagram-Profil: „Mein Weg mit Mara“ – Kontakte zu anderen Eltern

Jill Bodner erzählt bei Instagram auf ihrem Profil „Mein Weg mit Mara“ (externer Link) vom Alltag. Pierre gibt zu, dass er am Anfang sehr skeptisch war, dass das Familienleben jetzt im Internet nachzulesen ist. Er habe sich aber letztlich überzeugen lassen, dass der Nutzen größer sein könnte: „Zu Beginn ging es um Kontakte zu anderen Eltern“, sagt Jill. Bei der seltenen Krankheit helfe das Netz, sich vernetzen zu können. Es gebe oft diese vermeintlichen Zufälle, wo einer jemanden kennt, der jemanden kennt. Oft sind es Hinweise auf Ärzte, die schon mal Erfahrung mit der Krankheit haben. Jill lernte drei andere Fälle kennen. Eine Betroffene aus den USA im fortgeschrittenen Alter, aber auch ein Kind aus der Schweiz. Es ist gestorben.

Mara schaut zur Seite. Ihre Mutter zeigt ihr Leben bei Instagram.
Mara schaut zur Seite. Ihre Mutter zeigt ihr Leben bei Instagram. © WAZ | Arne Poll

Für manche Familien ist der Weg an die Öffentlichkeit auch ein Weg, mit dem Schicksal fertig zu werden. Aktuell folgen Jill Bodner überschaubare 1700 Menschen. Von anderen Familien weiß Jill Bodner, dass die Präsenz im Internet zynische Auswüchse treiben kann. „Im Sterbenskampf gehen die Follower-Zahlen nach oben“, sagt die Mutter. Je schlimmer es um ein Kind stehe und je detaillierter jemand das beschreibe, umso mehr verstärke sich explosionsartig das Interesse.

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Sie selbst habe auch schon etliche böse Kommentare von Menschen, die glauben, vieles besser zu wissen, erhalten. Dennoch sei ihr das Profil wichtig: „Mir geht es um Aufklärung.“ Auch im Alltag sei es ihr lieber, dass jemand nach Maras Schicksal fragt, als dass man sie anstarre.

Mara ist müde, so wie andere Kinder in dem Alter auch. Gleich geht’s ins Bett. Und dann beginnt ein neuer Tag, den die Familie vielleicht bewusster erlebt als andere Familien. Leben. Und irgendwie glücklich sein.