Herne. Tina Jelveh (37), Ratsfrau aus Herne, ist erschüttert über das Mullah-Regime in ihrer Heimat Iran. Sie sorgt sich um Verwandte und Freunde.
Tina Jelveh, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Herner Rat und Gesamtschullehrerin in Gelsenkirchen, ist im Iran aufgewachsen und besitzt neben der deutschen auch die iranische Staatsangehörigkeit. Im WAZ-Interview spricht die 37-Jährige über die Proteste der Menschen in ihrem Heimatland und die Brutalität des Mullah-Regimes.
Sie sind im Iran geboren und einige Jahre aufgewachsen, besitzen neben der deutschen auch die iranische Staatsbürgerschaft. Wie erleben Sie die Proteste im Iran?
Sie bewegen mich sehr. Ich bin erschüttert, wenn ich sehe, wie brutal Menschen von den Milizen unter roher Gewalt in ein Auto gezerrt, geschlagen und denunziert werden. Das ist widerlich. Das nimmt mich auch deshalb so mit, weil ich mir immer wieder vorstelle, dass die Betroffenen auch Angehörige oder Freunde von mir sein könnten – oder sogar ich, wenn ich noch dort leben würde.
Sie sind als Achtjährige mit Ihrer Familie aus dem Iran geflüchtet. Warum?
Meine Eltern waren Regimekritiker. Meine Mutter und mein Vater haben sich für Frauenrechte eingesetzt – durch freie Meinungsäußerung. Die aber wird in einer Diktatur nicht anerkannt. Nachdem meine Eltern gewarnt wurden, haben Sie das Land innerhalb von ein paar Tagen verlassen, mit mir und meinem Bruder, der damals zweieinhalb Jahre alt war. Dass wir in Deutschland gelandet sind, war dann purer Zufall.
Wie kamen Sie nach Herne?
Wir sind über die Türkei geflohen. Dann waren wir einige Wochen in Istanbul, kamen anschließend mit dem Flugzeug nach Frankfurt und dort in eine Flüchtlingsunterkunft. Dann wurden wir von dort aus verteilt und landeten zufällig in Herne. Am Rhein-Herne-Kanal gab es damals eine Flüchtlingsunterkunft mit Containern, in denen wir untergebracht wurden. In dieser Anlage haben wir einige Monate gelebt. Schön war das nicht. Die Menschen waren zusammengepfercht, und es gab dort Konfliktpotenzial und Gewalt. Meine Eltern haben sich frühzeitig bemüht, da rauszukommen, und wir haben zügig eine Wohnung gefunden. Wir haben uns dann schnell bemüht, uns zu integrieren. Das klappte gut, auch dank Menschen, die bereit waren, Flüchtlinge auf ihrem Weg zu unterstützen. Und auch dadurch, dass unsere Eltern schnell mit uns Deutsch gesprochen haben.
Zurück zum Iran. Auslöser für die Proteste war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini. Sie wurde von der Sittenpolizei festgenommen, weil sie gegen die islamistischen Kleidungsvorschriften verstoßen haben soll, dann starb sie im Polizeigewahrsam. Wieso sorgte das plötzlich für eine solch große Protestwelle?
Dass der Fall viral ging, liegt an der großen Unzufriedenheit der Menschen, nicht nur der Intellektuellen, der sich aufgestaut hat. Vor allem die Frauen sind Menschen zweiter Klasse, deshalb fiel auch der Begriff „Gender Apartheidsystem“, der im Iran herrscht. Gleichzeitig steht das Land außenpolitisch und innenpolitisch sehr unter Druck, und die Inflationsrate liegt bei 50 Prozent. Das alles befeuert den Konflikt, und viele Menschen sagen: Es reicht. Sie haben das Mullah-Regime satt. Es ist nicht in der Lage, das Land vernünftig zu führen.
Sie sagen, dass Frauen im Iran Menschen zweiter Klasse sind. Wie äußert sich das im Alltag?
Die Verfassung sieht nicht vor, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Deshalb können schon neunjährige Mädchen an Männer verheiratet werden. Oder Männer können sich einfach ohne Grund von ihren Frauen scheiden lassen, Frauen aber nicht von ihren Männern. Und wenn Frauen reisen wollen, müssen sie ihre Männer fragen. Ein konkretes Beispiel aus meiner Familie: Meine Cousine hat ihren Mann verloren. Ihr gesetzlicher Vormund ist nun ihr Schwiegervater, der aber über 90 Jahre alt ist. Das Sorgerecht für die Tochter der Cousine hat er auf einen Enkel übertragen, der meine Cousine und ihre Tochter nicht kennt und weit weg wohnt. So wird iranisches Recht gelebt.
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Proteste gab es in den vergangenen Jahren regelmäßig in Ihrem Heimatland, die aber wurden zügig erstickt oder niedergeschlagen. Sehen Sie jetzt ein Potenzial, dass es zu einem Regimewechsel kommen könnte?
Ich würde mir das sehr wünschen. Der Ruf der Demonstrierenden nach „Frauen.Leben.Freiheit“ kann nur mit dem Ende dieser theokratischen Diktatur erfüllt werden. Den Wunsch hatte ich schon bei der „grünen Revolution“. Vergeblich.
Die EU hat das brutale Vorgehen kritisiert und Sanktionen gegen die Sittenpolizei und die iranische Führung verhängt, die deutsche Außenministerin hat den iranischen Botschafter einbestellt. Reichen Ihnen diese Reaktionen?
Außenministerin Annalena Baerbock ist da sehr vorbildlich mit ihren Sanktionen gegen die iranische Führung und ihre Familienmitglieder, die paradoxerweise im europäischen Ausland geparkt wurden und Konten besitzen. Ebenso ist Annalena Baerbock vorbildlich in ihrer Kritik dem Iran gegenüber. Das passt zu ihrer feministischen Außenpolitik. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich dagegen noch gar nicht geäußert. Vielleicht will er das Regime noch halten, damit kein Vakuum im Nahen Osten entsteht?
Was steckt hinter der Ankündigung des Regimes, die Sittenpolizei abzuschaffen?
Für mich ist das ein Ablenkungsmanöver. Die Führung will zeigen, dass sie keine harte Diktatur ist, sondern reformfähig. Auch wenn das umgesetzt würde, gäbe es noch die Revolutionsgarden, die Milizen und auch die Polizei, die dafür verantwortlich wären, das bestehende Unrecht umzusetzen. Und das ist willkürlich. Da wird auf der Straße willkürlich entschieden, ob eine Frau ihr Kopftuch zu weit hinten trägt oder ob ihre Jeans zu eng ist. Es gibt keine klar definierten Kleidungsvorschriften. Und mit dieser Willkür müssen die Frauen tagtäglich leben. Das sorgt für Angst auf den Straßen: Es kann jeden treffen.
Die Angst ist vom Regime doch gewollt. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen wurden Hunderte Menschen getötet, über 500.000 sollen festgenommen worden sein. Jetzt wurden auch noch zwei Todesurteile verfügt.
Genau. Die Botschaft der Führung soll klar sein: Mit jedem, der sich gegen uns stellt, machen wir Prozess. Und dieser wird kurz und gnadenlos sein, bis hin zum Tod. In den Gefängnissen geht es brutal zu. Theologisch sind die Mullahs große Moralapostel, sie schüchtern aber ein, lassen misshandeln und vergewaltigen. Manche Gefangene begehen anschließend Selbstmord, weil sie das Unrecht, das an ihnen verübt wurde, nicht ertragen können.
Sie haben Ihre Heimat 2010 besucht. Wie war damals ihr Eindruck?
In Teheran habe ich mich darüber gewundert, wie locker und natürlich die Frauen sind. Die Köpfe waren nicht so sehr verschleiert, wie ich mir das vorgestellt hatte. Andere Städte waren konservativer. Und doch gab es längst das latente Misstrauen gegen Behörden, gegen die Polizei und die eigene Bevölkerung. Das spürt man schon. Seither ist viel passiert, heute würde ich nicht mehr in den Iran reisen. Das Risiko wäre mir zu groß. Was sehr schade ist, weil es ein sehr, sehr schönes Land ist, mit wunderbaren Menschen und einer tollen Kultur. Das würde ich auch gerne meinen Kindern und meinem Mann zeigen.
Wie groß ist Ihre Sorge um Ihre Angehörigen und Freunde?
Sehr groß. Alle meine Verwandten leben dort: die Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und ihre Kinder. Ich mache mir Sorgen, etwa, wenn sie auf die Straße gehen und demonstrieren. Dann sind auch sie den Milizen gnadenlos ausgeliefert. Aber ich bewundere auch ihren Mut. Nicht nur den meiner Verwandten und Freunde, sondern aller Menschen, die auf die Straße gehen.
>> Zur Person: Lehrerin in Gelsenkirchen
Tina Jelveh (37) ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Rat der Stadt Herne. Die erste Schulklasse besuchte sie in ihrer Heimat Iran, nach ihrer Flucht wechselte sie auf die Grundschule an der Claudiusstraße.
Ihr Abitur machte sie am Gymnasium Eickel. An der Ruhr-Uni Bochum studierte Tina Jelveh Deutsch und Religion auf Lehramt, diese Fächer unterrichtet sie nun an der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen.
Tina Jelveh ist verheiratet und hat zwei Kinder (vier Jahre und fünf Monate). 2009 wurde sie in den Rat gewählt und anschließend stellvertretende Bürgermeisterin – die damals jüngste im Land. Politisch engagiere sie sich, weil sie Deutschland, das sie so gut aufgenommen habe, dankbar sei und etwas zurückgeben wolle, sagt sie. Ihre Muttersprachen sind Farsi und Deutsch.