Herne. Als Russland die Ukraine überfiel, flüchtete Tetiana Starchenko nach Herne. Sie gehört zu den ersten Flüchtlingen, die Arbeit gefunden haben.
Seit dem 24. Februar wandelt die Ukrainerin Tetiana Starchenko zwischen zwei Welten. Nach dem Angriff Russlands auf ihr Heimatland ist sie nach Herne geflüchtet. Sie gehört zu den ersten ukrainischen Flüchtlingen in Herne, die eine Beschäftigung gefunden haben. Ein Schritt, der darauf hindeutet, dass die 41-Jährige die ukrainische Welt hinter sich lassen wird, um sich mit ihrer Familie in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. Das ist ihre Geschichte.
Starchenko stammt aus der Millionenstadt Charkiw in der Ostukraine, die in den vergangenen Monaten stark umkämpft war. Schon in der Schule habe sie Deutsch gelernt und sei ausgebildete Dolmetscherin. Mit ihren Deutsch- und Englischkenntnissen habe sie sich selbstständig gemacht und habe Unternehmen beraten, die in der Ukraine Partner suchen, oder ukrainische Firmen, die im Ausland Kontakte knüpfen wollen.
Starchenko erfuhr in Brasilien vom Überfall Russlands auf die Ukraine
Vom Überfall Russlands auf ihr Heimatland habe sie während einer Dienstreise nach Brasilien erfahren. Sie sei gar nicht mehr in die Ukraine zurückgekehrt, sondern über Istanbul nach Herne gereist, weil hier ihre Schwägerin wohne. In Herne sei sie nur mit jenen Dingen angekommen, die sie für die Dienstreise nach Brasilien gepackt hatte. Ihren Ehemann und ihren Sohn habe sie erst im April wiedergesehen, nachdem diese ausgereist waren. Am 1. Oktober reiste Starchenko für ein paar Tage nach Hause, um in ihrem Haus nach dem Rechten zu sehen. Der Anblick sei traurig gewesen. Im Vergleich zu anderen Häusern sei es zwar kaum beschädigt, doch die Einrichtung sei geplündert worden, selbst die Tapeten seien verschwunden.
Dass sie sich in Herne Arbeit suchen würde, habe für sie festgestanden. „Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet.“ Als sie ihren Ehemann und ihren Sohn beim Herner Koordinationszentrum registriert habe, sei sie von einer Mitarbeiterin gefragt worden, ob sie Arbeit suche. Kurze Zeit später habe sich das Jobcenter mit einem Angebot gemeldet - das sie selbstverständlich angenommen habe. Und so übersetzt Starchenko bereits seit dem 9. Mai für ihre Landsleute und die Jobcenter-Mitarbeiter.
Sohn besucht Berufskolleg, Ehemann einen Deutschkurs
Starchenko und ihrer Familie ist es so gegangen wie vielen anderen Flüchtlingen aus der Ukraine. Zunächst hätten sie sich innerlich gegen den Gedanken an ein dauerhaftes Leben in Deutschland gesperrt. Nachdem ihre Stadt befreit worden war, hätten sie gedacht, dass sie im August zurückkehren können. Aber nach der Bombardierung seien viele Ortschaften fast komplett zerstört worden. Und damit sei auch die Zukunft in der Heimat zerstört worden. Dabei hätten sie vor Kriegsausbruch so viele Pläne gehabt.
Ihre Zukunft sieht Tetiana Starchenko inzwischen in Deutschland, ein Schritt in diese Richtung ist die Anerkennung ihrer Zeugnisse. Danach möchte sie als Arbeitsvermittlerin im Jobcenter arbeiten. Auch ihr Ehemann und ihr 17-jähriger Sohn bereiten sich auf eine Existenz in Deutschland vor. Ihr Sohn besuche bereits ein Berufskolleg und strebt danach eine Ausbildung im Bereich der Elektrotechnik an, ihr Mann lerne bereits Deutsch. In Charkiw habe er eine eigene Firma für Fensterbauer gehabt.
Aus ihrer Tätigkeit für das Jobcenter hat Starchenko den Eindruck gewonnen, dass mindestens die Hälfte der ukrainischen Flüchtlinge dauerhaft in Herne bleiben wolle und Arbeit suche. Starchenko: „Die Frauen, die in der Ukraine gearbeitet haben, wollen auch so schnell wie möglich hier arbeiten.“
>>> JOBCENTER FÜHRT GESPRÄCHE ZUR INTEGRATION IN DEN ARBEITSMARKT
Seit Anfang Juni sind rund 1000 Menschen aus der Ukraine beim Jobcenter registriert, davon seien etwa 300 Kinder, der Rest überwiegend (alleinerziehende) Frauen, so Christian Matzko, stellvertretender Leiter des Hernes Jobcenters.
Das Jobcenter habe bereits begonnen, Erstgespräche mit den Flüchtlingen aus der Ukraine zu führen, um zu sehen, wie eine Integration in den Arbeitsmarkt erfolgen kann. Etwa 400 Gespräche seien bereits geführt worden.
In den Gesprächen sei festgestellt worden, dass bei den Flüchtlingen ein Umdenken stattgefunden habe. Kurze Zeit nach der Flucht hätten viele geglaubt, dass sie nach einem halben Jahr in die Ukraine zurückkehren können. Inzwischen richteten sich viele auf einen längeren Aufenthalt in Deutschland ein. Damit steige die Motivation zu arbeiten. Matzko: „Der Schlüssel ist natürlich die Sprache. Die Deutschkenntnisse sind aber oft nicht ausreichend für eine Beschäftigung in Deutschland.“ Deshalb würden viele Flüchtlinge Sprachkurse besuchen. Erweiterte Deutschkenntnisse hätten etwa 30 ukrainische Flüchtlinge. Erst wenn die Deutschkenntnisse gut genug seien, könne man mit der Vermittlung in den Arbeitsmarkt beginnen. Bei der Abfrage der Qualifikation habe sich herausgestellt, dass etwa 200 keine nennenswerte Qualifikation hätten, über 200 seien Fachkräfte oder Spezialisten.
>>> STUDIE: 90 PROZENT WOLLEN EINE BESCHÄFTIGUNG AUFNEHMEN
90 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine wollen in Deutschland eine Beschäftigung aufnehmen. Zu diesem Ergebnis kommt das ifo-Institut in einer Umfrage unter 936 Ukrainerinnen und Ukrainern. 42 Prozent arbeiten bereits in ihrem Beruf oder sind auf der Suche nach einer qualifizierten Stelle. 32 Prozent sind bereit, unter ihrer Qualifikation zu arbeiten. Als gering schätzen 16 Prozent ihre Möglichkeiten am deutschen Arbeitsmarkt ein. Nur 10 Prozent sehen keine Perspektive zu arbeiten oder haben kein Interesse.