Herne. Ihr Buch über starke Frauen stellte Michelle Müntefering im Herner Literaturhaus mit einer Transfrau vor. Warum der Abend bemerkenswert war.

Ein Mosaik aus Porträts von 20 starken Frauen hat Michelle Müntefering als Herausgeberin des Buchs „Welt der Frauen“ geknüpft. Am Donnerstagabend stellte die Herner SPD-Bundesabgeordnete im Literaturhaus das Buch gemeinsamen mit einer dieser 20 Persönlichkeiten vor, die nach der Geburt als Mann ihr lebenslanges Frausein erst vor zweieinhalb Jahren öffentlich gemacht hatte: Georgine Kellermann.

Mit 62 Jahren von einem „Panzer“ befreit

Die Leiterin des WDR-Studios Essen („dort bin ich glücklicherweise auch für Herne zuständig“) gab tiefe Einblicke in das Leben einer Transfrau, deren Seele erst nach 62 Jahren „heraus durfte aus dem Panzer, den gesellschaftliche Konvention und Dünkel geschmiedet haben“. Außerhalb der Öffentlichkeit habe sie schon immer zu sich gestanden, berichtet die Journalistin. Und auch ihre Familie habe immer Bescheid gewusst, dass Georg eine Georgine ist.

Georgine Kellermann leitet das WDR-Studios in Essen. Zuvor war die 64-Jährige - damals noch als Georg Kellermann - unter anderem für den WDR in Washington und Paris.
Georgine Kellermann leitet das WDR-Studios in Essen. Zuvor war die 64-Jährige - damals noch als Georg Kellermann - unter anderem für den WDR in Washington und Paris. © WDR | Annika Fußwinkel

Ihr Outing hatte die Journalistin dann nicht wie geplant erst mit Antritt des (vorzeitigen) Ruhestands – für diesen Anlass hatte sie sich bereits ein schwarzes Kostüm gekauft -, sondern spontan durch eine zufällige Begegnung: Auf dem Weg zum Flug in den Urlaub nach San Francisco habe sie zufällig eine WDR-Kollegin getroffen. Diese habe laut Kellermann zu ihrer Frauenkleidung und ihrer Erklärung nach „einem Moment des Begreifens“ nur ein Wort gesagt: „Cool!“

Und cool war auch das, was die 64-Jährige im Literaturhaus über die weiteren Folgen ihrer Offenbarung berichtete. Ihr Bekenntnis vor laufenden Kameras in der „Aktuellen Stunde“ des WDR habe keinen Shitstorm, sondern einen Candystorm mit überwiegend positiven Reaktionen ausgelöst - auch von anderen Transmenschen, die durch ihre Sichtbarkeit ermutigt worden seien, so Georgine Kellermann.

Auch interessant

Es gab und gibt aber auch andere Reaktionen, selbst anlässlich der Veranstaltung im Herner Literaturhaus. Michelle Müntefering erzählte, dass sich mehrere Anrufer in ihrem Berliner Büro darüber empört hätten, dass sie zur Vorstellung ihres Frauen-Buchs „keine Frau“ eingeladen habe. Kellermann berichtete, dass Alice Schwarzer und einige andere Feministinnen Transfrauen „radikal ausschließen“. Zum Glück sei dies nur eine kleine Gruppe. Ihre Botschaft an Schwarzer & Co.: „Wer mir unterstellt, meine Lebensgeschichte sei darauf ausgerichtet, in Frauenschutzräume einzudringen, der oder die hat nicht verstanden, was mich und meine Transfreundinnen ausmacht.“

Michelle Müntefering und die Pionierin des Frauenfußballs

Sie erlebe heute ein Glück, das sie seit ihrer Geburt nicht gekannt habe: „Ich muss mich nie wieder verstecken.“ Sie wolle alt werden, sehr alt: „Ich möchte dieses Leben so lange leben wie nur irgend möglich. Es ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.“ Vom Gedanken des vorzeitigen Ruhestands habe sie sich auch wegen ihres „tollen Teams“ beim WDR längst verabschiedet, nicht aber vom schwarzen Kostüm: „Das werde ich an meinem letzten Arbeitstag tragen.“

25 Frauen und fünf Männer folgten der Lesung im Herner Literaturhaus in der Alten Druckerei an der Bebelstraße.
25 Frauen und fünf Männer folgten der Lesung im Herner Literaturhaus in der Alten Druckerei an der Bebelstraße. © FUNKE Foto Services | Gero Helm

Im Literaturhaus kamen noch weitere beeindruckende Biografien zur Sprache. So trug Michelle Müntefering aus ihrem Buch unter anderem den Beitrag der deutschen Fußballpionierin Monika Stab vor, die nach ihrer mit großen Hürden verbundenen aktiven Zeit Mädchen in Gambia das Kicken lehrte. Oder sie las aus dem Kapitel von Julia Leeb, die als Kriegsreporterin im Kongo – laut UNO „die Welthauptstadt der Vergewaltigung“ – erlebte, wie „der geschundene weibliche Körper zur Botschaft an den Feind“ wird.

Auch interessant

Die Staatsministerin im Auswertigen Amt, Michelle Müntefering stellt sich am 25.06.2018 einem Interview. FUNKE Foto Services / Klaus Pollkläsener
Von Tobias Bolsmann und Michael Muscheid

Ihre zentrale Botschaft von der Bedeutung der Gleichberechtigung der Frau und der Gleichwertigkeit aller Menschen vermittelte Müntefering zudem in Berichten und persönlichen Anekdoten über politische Erfahrungen, Begegnungen und Reisen. Und am Rande gab es noch ein Lob der Sozialdemokratin für eine Grüne. Müntefering bescheinigte Außenministerin Annalena Baerbock einen „starken Auftritt“ bei der Abrechnung mit Putins Politik im UN-Sicherheitsrat: „Sie macht einen sehr guten Job.“

>>> Literaturhaus-Auftritt: Platz 2 hinter der Kirmeseröffnung

Sie habe vor Jahren die Cranger Kirmes eröffnen dürfen; das sei in Herne so etwas wie der Höhepunkt eines Abgeordnetenlebens, berichtete Michelle Müntefering. Im Literaturhaus ein Buch vorzustellen, komme aber gleich an zweiter Stelle, betonte sie.

Literatur sei ihr schon immer wichtig gewesen, auch wenn es in ihrem Elternhaus nur den ADAC-Campingatlas und vier weitere Bücher gegeben habe. Sie sei als Mädchen regelmäßig in die Stadtbücherei gegangen und habe sich jeden Monat ein Kinderbuch bei Koethers & Röttsches kaufen dürfen. Bücher hätten ihr Menschen- und Weltbild geprägt.

Elisabeth Röttsches leitet mit ihrem Bruder Ludger die Herner Buchhandlung Koethers & Röttsches und den Veranstaltungsort Literaturhaus.
Elisabeth Röttsches leitet mit ihrem Bruder Ludger die Herner Buchhandlung Koethers & Röttsches und den Veranstaltungsort Literaturhaus. © FUNKE Foto Services | Gero Helm

Ausdrücklich Dank richtete Michelle Müntefering an Gastgeberin Elisabeth Röttsches, die solche Erfahrungen mit großem persönlichen Einsatz möglich mache.