Herne. Immer mehr Schüler mit Migrationshintergrund lernen in der Schule auch ihre Muttersprache. Wir haben eine Kurdisch-Stunde in Herne besucht.
Nachmittag an der Edmund-Weber-Straße in Eickel, es hat gerade zum Unterrichtsschluss geklingelt, Schülerinnen und Schüler strömen aus dem mehrstöckigen Gebäude. Einige Jugendliche verweilen noch auf dem Hof, unterhalten sich, andere schreiten zügig zum Bus oder nach Hause. In einem unscheinbaren Nebengebäude der Hans-Tilkowski-Schule allerdings klingelt es nicht zum Unterrichtsschluss, sondern zum Stundenbeginn. Dann, wenn alle anderen Schluss haben, tritt Herr Abde vor seinen Kurs und unterrichtet elf Jugendliche in ihrer Muttersprache: Kurdisch.
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Das Thema der heutigen Stunde ist Sprache. Samir Kheder Abde fragt die Schülerinnen und Schüler auf Kurdisch, wie viele Sprachen es wohl auf der Welt gibt. 200, 70, 500 oder doch viel mehr? Rund 7000 – die Antwort überrascht. Einige von ihnen landen auf der Tafel: ispani (Spanisch), almani (Deutsch), urdu (Urdu), ingilizi (Englisch). Die wohl bedeutsamste Sprache für die Jugendlichen im Raum: Kurdisch. Die Sprache mit den vielen Dialekten und Mundarten ist ihre Muttersprache, ein Stück Identität.
Herner Hauptschule bietet Kurdisch-Unterricht an
Im herkunftssprachlichen Unterricht an der Hans-Tilkowski-Schule haben sie die Gelegenheit, ihre Kurdisch-Kenntnisse zu erweitern. „Viele Kinder haben Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben auf Kurdisch“, erklärt Samir Kheder Abde. „Sie sprechen die Sprache zwar zu Hause mit ihren Familien, aber das ist schlichte Alltagssprache.“ Grammatikalische Feinheiten und Synonyme seien da weniger im Fokus. Und: „Viele der Eltern sind Analphabeten, durften in ihrer Heimat zum Teil kein Kurdisch sprechen.“ Der heimatsprachliche Unterricht hilft, diese Defizite aufzuarbeiten. „Einige Schülerinnen und Schüler besuchen den Kurs aber auch, um ihre Englischnote auszugleichen“, sagt Schulleiter Lothar Heistermann. „Oder als Alternative zur ersten Fremdsprache.“ Einige zugewanderte Jugendliche seien bei ihrer Ankunft in Deutschland zu alt gewesen, um in den regulären Englischunterricht einzusteigen.
Herr Abde unterricht seit 2015 an der Hauptschule in Eickel, zusätzlich noch an vier anderen weiterführenden Schulen in Bochum und Herne. Der 41-Jährige lehrt rund 200 Kinder in und auf Kurdisch, nur selten streut er deutsche Worte oder Sätze ein. „Manchmal ist es nicht einfach, weil die Kinder die Sprache auf sehr verschiedenen Niveaus beherrschen“, sagt er. Der Kurde aus dem Irak lebt seit elf Jahren in Deutschland, spricht zu Hause in Recklinghausen mit seinen Kindern Kurdisch. „Das ist mir sehr wichtig.“
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Wenn die Muttersprache verboten ist
Genau wie etwa im Englischunterricht auch, schreiben die Schülerinnen und Schüler Klassenarbeiten, kriegen Hausaufgaben. Der heimatsprachliche Unterricht findet oft nachmittags oder abends statt, lässt sich nur selten in den regulären Stundenplan integrieren. „Es sind häufig auch Schüler aus anderen Schulen mit anderen Zeiten dabei“, erklärt Lothar Heistermann. „Neulich kam ein Junge nachmittags im Unterricht zu mir und hat sich beklagt“, erzählt Kurdisch-Lehrer Abde. Er sei zu müde, könne sich nicht mehr konzentrieren nach der normalen Schule. „Ich habe ihn nach Hause geschickt.“
Unterricht nach dem Unterricht – ziemlich anstrengend, lohnt sich das? Die 15-jährige Arin schaut, als habe sie die Frage nicht verstanden und antwortet wie selbstverständlich: „Das ist meine Muttersprache, natürlich lohnt sich das.“ Gulnaz (16), die den Unterricht ebenfalls besucht, pflichtet bei. „In Syrien ist es verboten, Kurdisch zu sprechen. Da hätte es so einen Unterricht nie gegeben.“ Seit fünf Jahren leben die beiden mittlerweile in Deutschland. „Ich bin froh, dass es hier den Kurdisch-Unterricht gibt“, sagt Arin.
Nachfrage nach herkunftssprachlichem Unterricht steigt
Die Nachfrage nach herkunftssprachlichem Unterricht steige stetig. Das beobachtet auch Leyla Öztürk (47). Sie unterrichtet an der Hans-Tilkowski-Schule Mathe, zeitweise auch Türkisch. Mittlerweile ist aus dem Türkisch-Unterricht, der parallel zu Religionsstunden fest im Stundenplan integriert war, eine AG geworden. „Leider haben die Uhrzeiten der anderen Schulen nicht zu unserem Stundenplan gepasst“, sagt die gebürtige Türkin.
Immer wieder fragten Kinder und auch Eltern bei ihr wegen des Türkisch-Unterrichts an, so gründete sie die AG. Zwar schreiben die Schülerinnen und Schüler hier keine Klassenarbeiten, „aber trotzdem treffen wir uns nach dem regulären Unterricht. Das ist nicht selbstverständlich.“ Die acht Jugendlichen lesen Kurzgeschichten, Fabeln und manchmal auch Märchen. „Das schult die geschriebene Sprache und erweitert den Wortschatz“, erklärt Frau Öztürk.
„Dass wir Türkisch sprechen und nicht Deutsch, ist essenziell. Sprache ist immer auch Kultur“, sagt die dreifache Mutter. Ihr Kollege Herr Abde nickt. „Manche Sachen kann man nicht übersetzen. Die muss man fühlen.“
>>> Herkunftssprachlicher Unterricht in Herne
- In Herne gibt es den herkunftssprachlichen Unterricht in fünf Sprachen: Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Italienisch und Polnisch.
- Die Lehrkräfte sind Beschäftigte des Landes Nordrhein-Westfalen und in der Regel Muttersprachler. Das Land stellt den Schulen im Regierungsbezirk Arnsberg rund 170 Stellen für Lehrkräfte für herkunftssprachlichen Unterricht zur Verfügung.