Herne. Die Krebszahlen in Herne liegen deutlich über dem NRW-Schnitt. Grund sei die Zentraldeponie, sagen Bürgerinitiativen und fordern Aufklärung.
Immer mehr Menschen erkranken in Herne an Krebs. Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen liegen die Zahlen der Krebsneuerkrankungen und der Krebssterbefälle deutlich über dem NRW-Schnitt. Die aktuellsten Zahlen des Landeskrebsregisters NRW sind aus dem Jahr 2018 und wurden jüngst veröffentlicht.
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Laut der Statistik gab es im Jahr 2018 bei den Männern in Herne 525,8 Neuerkrankungen auf 100.000 Einwohner. Der NRW-Schnitt lag bei 442. Damit liegen die Männer auf Platz 1 in NRW. Bei den Frauen zeigt sich ein ähnliches Bild: Während in Herne 407,5 Frauen auf 100.000 Einwohner an Krebs erkrankten, waren es NRW-weit 373,7.
Einen Grund für die hohen Krebszahlen in Herne sieht die Bürgerinitiative „Uns stinkt’s“ in der Sondermülldeponie Emscherbruch. „Neben 25 Millionen Kubikmetern leichtbelasteten Abfällen liegen heute schon über fünf Millionen Kubikmeter krebserzeugender Stoffe wie Arsen, Blei oder Cadmium in unmittelbarer Nähe, teilweise in unter 100 Meter Entfernung von den Anwohnern, teils offen gelagert auf der Zentraldeponie in Gelsenkirchen“, sagt Henning Mettge, Sprecher der BI. „Die neuen und gleichzeitig entsetzlichen Zahlen im Krebsregister NRW für Herne sollten Politik und Regierung alarmieren – denn Herne ist seit Jahren der traurige Rekordhalter.“
Bezirksregierung Münster: Mehr Krebsfälle durch Raucher
Die Bezirksregierung Münster sieht hingegen keinen Zusammenhang zwischen der Deponie und den hohen Krebszahlen. „Gemäß dem Gutachten liegt das Risiko, an Krebs zu erkranken, für Menschen in der Umgebung der ZDE in derselben Größenordnung, wie für Menschen im Umfeld anderer größerer Industrieanlagen“, heißt es in der Genehmigung zur Erweiterung der Deponie. Stattdessen führt sie einen anderen Grund als mögliche Ursache auf. In der Genehmigung wird ein von ihr beauftragtes humantoxikologisches Gutachten zitiert: „Zudem liegt der Raucheranteil in der Herner Bevölkerung seit Jahren deutlich über dem Landesdurchschnitt, so dass die erhöhte Krankheitslast durch bösartige Neubildungen in Herne maßgeblich auf das Rauchverhalten zurückgeführt werden kann.”
Laut statistischem Landesamt haben im Jahr 2017 in Herne 28,1 Prozent der Männer geraucht – landesweit waren es 22,6 Prozent. „Trotzdem bleibt der hergestellte Zusammenhang der oben genannten Zitate im Genehmigungsbescheid der Bezirksregierung bemerkenswert“, so Mettge. Es gebe zwar gut fünf Prozent mehr Raucher in Herne, allerdings sterben hier fast 25 Prozent mehr Männer an Krebs als in NRW. „Die Beantwortung dieser Diskrepanz bleibt in der Begründung zur Erweiterung der 50 Jahre alten Sondermülldeponie ausgespart.“
Deswegen fordere die BI die Landesregierung NRW und die Städte Herne und Gelsenkirchen auf, Klarheit hinsichtlich der gesundheitlichen Belastungen der ZDE-Anwohner durch ein von der Bezirksregierung Münster unabhängiges Bio-Monitoring zu schaffen.
Stadt Herne sieht andere Ursachen für die hohen Krebszahlen
Auch laut Stadt gibt es für die hohen Krebszahlen andere Ursachen als die Zentraldeponie. So beeinflussten „Faktoren wie der Lebensstil (Ernährung, Bewegung, Rauchen, Alkohol), genetische Dispositionen, persönliche Dispositionen (zum Beispiel Personen, die im Bergbau tätig gewesen sind) und Umwelteinflüsse die individuelle Gesundheit“, teilt die Stadt auf Nachfrage der WAZ mit.
In der Sitzung der Bezirksvertretung Wanne am 13. April wurde einstimmig folgender Beschluss gefasst: „Die Verwaltung wird beauftragt, sich mit dem Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes NRW ins Benehmen zu setzen mit dem Ziel der Durchführung eines kleinräumigen Human-Bio-Monitorings von Anwohnerinnen und Anwohnern der Zentraldeponie Emscherbruch“. Die Verwaltung habe ein entsprechendes Schreiben zur Durchführung eines kleinräumigen Human-Bio-Monitorings über die Bezirksregierung Münster an das Umwelt-Ministerium versandt. „Eine Direktive zur Umsetzung obliegt der Stadt Herne nicht“, teilt sie mit.
Um weitere Ursachenforschung anzustellen, werde die soziale und gesundheitliche Lage „quantitativ sowie qualitativ erfasst, analysiert und berücksichtigt“. In Folge dessen würden weitere mögliche Handlungsstränge eruiert.
„Zwischen ZDE und Krebserkrankungen besteht kein direkter Zusammenhang“
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Krebs könne verschiedene Ursachen haben, erklärt Prof. Dr. Dirk Strumberg, Klinikdirektor der Medizinische Klinik lll – Hämatologie/ Onkologie des Marien Hospital Herne. „Ein großer Risikofaktor für bösartige Tumorerkrankungen ist ein höheres Lebensalter, weil etwa zwei Drittel der erkrankten Patienten über 60 Jahre alt sind.“ Eine weitere wichtige Ursache sei der Lebensstil, denn Rauchen, Übergewicht, ungesunde Ernährung und fehlende sportliche Aktivität sowie auch die daraus resultierenden Begleiterkrankungen könnten Auslöser für eine Krebserkrankung sein oder die Entstehung zumindest begünstigen.
Aber auch die Arbeitsumgebung wie Kontakt zu ionisierender Strahlung, Dämpfen und kanzerogenen Chemikalien seien Risikofaktoren für Krebserkrankungen, die aber unter arbeitsschutzrechtlicher Kontrolle stünden. Bei Umweltfaktoren könnten mangelhafte Wasser- und Luftverhältnisse die Entstehung von Krebserkrankungen begünstigen. Insgesamt seien rund fünf bis zehn Prozent aller Krebserkrankungen zudem genetisch bedingt.
Dass die Zahlen in Herne über dem NRW-Schnitt liegen, könne auch an einer vergleichsweise überalterten Bevölkerung liegen, sagt der Experte. „Zwischen der Zentraldeponie und der Zahl der Krebserkrankungen in Herne besteht zunächst kein direkter Zusammenhang.“ Derartige Umweltfaktoren unterlägen einer strengen behördlichen Kontrolle und spielten in der Regel keine statistisch relevante Rolle bei der Entstehung von Krebserkrankungen, so Strumberg.
>>>WEITERE INFORMATIONEN: Das sagt die BI „Dicke Luft“
Auch die Bürgerinitiative „Dicke Luft Herne“ habe „mit Entsetzen“ festgestellt, dass sich der negative Trend in Herne weiter fortsetzt. In Herne gebe es eine große Anzahl von schadstoffemittierenden Industrieanlagen, die eine hohe Belastung der Luft und Umwelt erzeugen und damit negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner hätten, so Gerhard Kalus, Sprecher der BI.
Da die vom Krebsregister NRW veröffentlichten Daten nicht zu leugnen seien, werde von Seiten der Behörden gerne die angeblich ungesunde Lebensart der Menschen im Ruhrgebiet und speziell der Herner als Erklärung angeführt, so Kalus. Es sei mehr als zynisch, eine weitere Verschlechterung der Umweltsituation zu erlauben und gleichzeitig auf die Krebszahlen mit einem „Daran seid ihr selber Schuld“ zu reagieren, so Kalus. „Wir fordern von der Politik endlich Maßnahmen, um festzustellen, warum es im Ruhrgebiet, und gerade auch in Herne, diese überdurchschnittliche Erhöhung der Fallzahlen bei Krebserkrankungen gibt.“