Herne. Eine Lehrerin aus Herne schlägt Alarm: Der versäumte Unterrichtsstoff in der Corona-Krise sei nicht mehr aufzuholen. Das schlägt sie deshalb vor.

Grundschulkinder und Schüler aus Abschlussklassen waren die ersten; ab dem 15. März dürfen alle Kinder und Jugendlichen in Herne – zumindest an einigen Tagen in der Woche – wieder die Schulbank drücken. Doch ist der Lernrückstand überhaupt noch aufzuholen? Grundschullehrerinnen haben längst bemerkt, dass die Schere zwischen Kindern, die Unterstützung von ihren Eltern bekommen, und Schülern, die Arbeitsblätter am Smartphone ausfüllen müssen, immer größer wird. Trotzdem soll es am Ende des Schuljahres wieder Versetzungsentscheidungen geben. Das hat NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) Ende Februar entschieden.

„Was wir unseren Kindern und Jugendlichen zumuten, ist verantwortungslos“, sagt Çağıl Koyuncu, Schulpflegschaftsvorsitzende am Pestalozzi-Gymnasium in Herne und Lehrerin an einem Berufskolleg. Den Schülern fehle nach monatelangem Distanzlernen „viel zu viel“, um Abschlussprüfungen zu meistern. Der versäumte Stoff sei „jetzt schon nicht mehr aufzuholen“. Die Wiederholung der Klasse bestrafe das Kind, das nichts dafür könne, dass kein normaler Unterricht möglich war, beklagt die 50-Jährige. „Die Versetzung bestraft das Kind aber auch, weil es früher oder später vor die Wand fährt.“

Lehrerin aus Herne: „Ich kann doch keine Noten geben“

Der Start in den Wechselunterricht ab dem 15. März ist laut Çağıl Koyuncu ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Schulpflegschaftsvorsitzende hatte bereits lange vor der Ankündigung die Öffnung der Schulen gefordert. „Es war grundlegend falsch, die Schulen zu schließen“, sagt sie im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion.

Çağıl Koyuncu (50) ist Schulpflegschaftsvorsitzende am Pestalozzi-Gymnasium in Herne.
Çağıl Koyuncu (50) ist Schulpflegschaftsvorsitzende am Pestalozzi-Gymnasium in Herne. © FUNKE Foto Services | MATTHIAS GRABEN

Für die Lehrer sei es unheimlich schwer, die Leistung der Schüler im Homeschooling zu bewerten. Haben sie ihre Hausaufgaben alleine gemacht? Haben Mama oder Papa geholfen? Oder sind die Antworten vielleicht sogar nur ein „Copy & Paste“ aus dem Internet? „Ich sehe die Fragezeichen in den Gesichtern nicht“, sagt Çağıl Koyuncu, die Elektrotechnik und Informatik unterrichtet. Viele Jugendliche schalteten ihre Kamera bei den Videokonferenzen nicht mehr ein, weil sie befürchteten, dass ein Screenshot im Internet landet. „Ich weiß nicht, wo die Schüler stehen. Ich kann doch keine Noten geben.“

Die Schülerhilfe, die an ihren beiden Standorten in Herne und Wanne-Eickel weiterhin Online-Nachhilfe per Video-Chat anbietet, bemerkt auch die Verzweiflung aufseiten der Schüler und Eltern: „In unserer täglichen Arbeit erleben wir, wie Lerndefizite sich während der anhaltenden Schulschließungen vergrößern“, sagt Sprecherin Denise Kirchberger. „Eltern sind im Homeschooling überfordert und verunsichert, wie es um den aktuellen Leistungsstand ihrer Kinder ausschaut.“ Und auch die Schüler seien „gesättigt vom Distanz- bzw. Digitalunterricht“.

Sitzenbleiben oder nicht? – „Diese Frage stellt sich mir überhaupt nicht“

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Dass nun darüber diskutiert wird, ob es angemessen ist, Kinder in diesem Jahr nicht zu versetzen, lässt Çağıl Koyuncu „fassungslos“ zurück. „Sitzenbleiben oder nicht – diese Frage stellt sich mir überhaupt nicht“, ärgert sich die Schulpflegschaftsvorsitzende des Herner Pestalozzi-Gymnasiums. „Beides ist schlecht.“ Viel mehr gehe es darum, wie die Schüler den versäumten Unterrichtsstoff bis zum Schuljahresende wieder aufholen könnten. Doch wie ist das möglich? Die Ferien streichen? Alle Schüler das Schuljahr wiederholen lassen?

Çağıl Koyuncu schlägt vor, nach der Rückkehr zum Präsenzunterricht zunächst den Leistungsstand der Kinder und Jugendlichen zu erheben. Jede Schule solle eine Lernstandserhebung durchführen – „dezentral“, das bedeutet, die Lehrer stellen die Aufgaben, fordert sie. Sie wüssten am allerbesten, welchen Themen im Unterricht behandelt worden seien und auf welchem Stand die Schüler sein müssten.

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„Schüler mit einer eins, zwei oder drei sind safe“, sagt die Schulpflegschaftsvorsitzende. Bei allen anderen müsse man schauen, wo Förderungsbedarf besteht. Sie sollten zusätzlich zum regulären Unterricht in den jeweiligen Fächern beschult werden – „in einer Form, die man Unterricht nennen kann“, so Koyuncu. „Bevor ich ihnen nicht die Chance gegeben habe, kann ich nicht verantworten, sie sitzenbleiben zu lassen. Das ist unfair!“

Kritik am Impfkonzept: „Ich habe echt gedacht, ich werde als erste geimpft“

Um Unterricht vor Ort langfristig gewährleisten zu können, kämen Schulen aber nicht um regelmäßige Testungen und eine zügige Impfung herum. „Warum ist die Schulöffnung nicht im Impfkonzept vorgesehen?“, fragt die 50-Jährige. Die Impfung der Lehrerkräfte und Erzieher hätte parallel zu den Impfungen in Alten- und Pflegeheimen laufen müssen. „Ich habe echt gedacht, ich werde als erste geimpft“, so die Lehrerin. „Das ist ja kein Preis, den wir bekommen.“ Doch statt die Menschen zu impfen diskutiere man noch immer, „wie viel Strafe jemand zahlen muss, der sich vorgedrängelt hat“.

WEITERE INFORMATIONEN

Alle Kinder und Jugendlichen in Herne werden ab dem 15. März im Wechselmodus den Präsenzunterricht besuchen. Abschlussschüler dagegen dürfen zur Vorbereitung auf die Prüfungen täglich in die Schulen kommen.

Die Standorte der Schülerhilfe in Herne und in Wanne-Eickel sind seit dem 10. März wieder für den Nachhilfeunterricht vor Ort geöffnet.