„Am Ende zählen die kleinen Dinge“, sagt Annegret Müller. Die Begleitung von Menschen mit Demenz am Lebensende ist ihr Thema. Jetzt hört sie auf.
Mit knapp 64 Jahren verabschiedet sich Annegret Müller als Koordinatorin des Ambulanten Hospizdienstes Herne in den Ruhestand. An ihrem letzten Arbeitstag hat Ute Eickenbusch mit ihr vor allem über das Thema gesprochen, das sie am meisten bewegt: die Demenz am Lebensende.
Frau Müller, in Herne ist ihr Name mit der Palliativversorgung Schwerstkranker verknüpft, und insbesondere derer, die am Lebensende an Demenz erkranken. Das war nicht immer ihr Thema …
Ich bin ursprünglich Hauswirtschaftsmeisterin und habe auf dieser Grundlage eine Heimleiterausbildung gemacht. Aber es gab Missverständnisse zwischen mir und der Pflege. Gleichzeitig erkrankte mein Schwiegervater an Krebs, und da kam mein Wunsch auf: Ich würde gerne noch mal eine Pflegeausbildung machen.
Ein ungewöhnlicher Entschluss mit Ende 30. Wie erging es Ihnen damit?
Ich hatte das Ziel, danach als Heimleitung weiterzuarbeiten. Es wurde aber schnell klar, dass ich weder eine Schule noch einen Praktikumsplatz bekam, weil man nicht anerkennen wollte, dass ich die Rolle als „Azubi“ ausfüllen könnte. Dann habe ich doch einen Ausbildungsplatz bekommen und fast alle Praktika auf der Palliativstation des Ev. Krankenhauses in Herne gemacht.
War Ihnen der Palliativgedanke schon vertraut?
Von meiner Haltung ja, aber ich konnte es noch nicht mit „palliativ“ verknüpfen. Im Praktikum hab ich schon nach einer Woche gemerkt: Das ist das, was ich tun möchte, aber in Einrichtungen der Altenhilfe. Das war damals überhaupt noch kein Thema. Nach einem Dreivierteljahr in einem Altenheim habe ich auf der Palliativstation den Schwesternkittel wieder angezogen und bin Palliativ Care Fachkraft geworden. Karin Leutbecher war damals Sozialarbeiterin auf der Station und hatte den Auftrag, einen Hausbetreuungsdienst einzurichten für Patienten, die von der Palliativstation nach Hause entlassen werden. Da hat sie mich angesprochen, ob ich mir das vorstellen kann, mit ihr zusammen. Und das habe ich fünf Jahre später getan.
Was hat sie an der Aufgabe interessiert?
Ich habe schon im Altenheim gemerkt: Um Menschen in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten, braucht es eine bestimmte Haltung, eine Fachkompetenz und eine persönliche kommunikative Kompetenz.
Haben Sie da einen Mangel festgestellt?
Absolut. In den Altenheimen ruhte die Sterbebegleitung immer auf den Schultern einzelner Personen. Mir war klar, dass das in einem Team gemacht werden muss. Um etwas für jeden Zugängliches hinzubekommen.
Das heißt, es fehlten Standards?
Das ist genau das Wort, das ich überhaupt nicht haben kann in der Palliativmedizin! Gerade in der Palliativversorgung am Lebensende braucht es mehr als einen Standard – einen besonderen Blick. Etwas genau für die Patientin oder den Patienten. Das muss ich immer im Blick haben. Das ist schnell veränderbar, es kann jetzt so sein und heute Nachmittag ganz anders.
Braucht man eine Sensibilität für jede einzelne sterbende Person?
Man braucht einen Leitfaden, eine hohe Sensibilität und eine besondere Wahrnehmung. Ich muss bereit sein, auf den Betroffenen und seine Angehörigen einzugehen. Das heißt auch, dass ich mich mit meiner eigenen Endlichkeit beschäftigen muss. Nur wenn ich das offen tue, weiß ich, wo meine Baustellen sind.
Also das eigene Befinden nicht negieren?
Genau. Die eigenen Gefühle gehören dahin, ich muss nur wissen, was passiert in mir gerade. Wenn das ungefiltert an die Oberfläche kommt, wenn ich in der Sterbebegleitung bin, bin ich meinem Gegenüber keine Unterstützung. Dann leiden wir beide. Dann übersehe ich die wichtigen Dinge.
Sie haben sich auf die Begleitung dementer Menschen spezialisiert. Was ist da anders?
Das hat mit Kommunikation zu tun. Menschen mit Demenz können irgendwann ihre Nöte, Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr ausdrücken, zeigen sich uns aber mit und in ihren Gefühlen. Auch wenn im Gehirn kaum noch Dinge verknüpft werden, sind die Gefühle da. Häufig werden die Menschen auf ihre Krankheit reduziert. Neben der medizinischen und pflegerischen Versorgung braucht es die besondere Wahrnehmung: Was will dieser Mensch uns mitteilen? Wichtig ist auch eine Begleitung, wenn es um das Seelische geht, um das Spirituelle und um die sozialen Nöte. Da braucht es Menschen, die auf Augenhöhe gehen.
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Muss ich dazu meinen kognitiven Zugang zu den Demenzkranken abschalten?
Ich muss mich darauf einlassen, auf die Gefühlsebene zu gehen. Da kann ich den Menschen erreichen. In den Schulungen versuche ich das so zu erklären: „Ziehen Sie ihre Schuhe aus und schlüpfen Sie in die Schuhe des anderen.“ Man merkt dann: Man läuft langsamer, man spricht langsamer, die Interaktion verändert sich.
Wie in einer Beziehung zu einem Baby?
Unsere Dementen sind keine Babys, aber wir können das vergleichen. Auch Eltern ist klar: Wenn ich viel rede oder gestresst bin, überträgt sich das. Bei Menschen mit Demenz gucken wir meistens gar nicht hin, was ihr Verhalten mit unserem zu tun hat. Es mag demente Menschen geben, ganz wenige, die irgendwann in eine Aggression kommen, aber der Aggression liegt immer eine Hilflosigkeit zugrunde. Wir schlagen um uns, wenn wir uns nicht verstanden fühlen oder wenn wir Angst spüren.
Sie haben zu dem Thema auch eine Arbeitsgruppe gegründet, die AG NRW Demenz am Lebensende.
Mein Ziel war es, verschiede Berufsgruppen an einen Tisch zu bekommen und den Angehörigen etwas Greifbares an die Hand zu geben. Wir sind in Deutschland und gerade in Herne sehr gut aufgestellt, was die Begleitung bei Demenz angeht. Aber was ist, wenn diese Angebote nicht mehr greifen und der Demente vielleicht nicht mehr richtig sprechen oder essen kann? Ziel war es, Betroffene und Angehörige zu sensibilisieren: Macht euch so früh wie möglich Gedanken. Jemand ist nicht von jetzt auf gleich nicht mehr aufnahmefähig. Diese Zeit muss genutzt werden, um so viel wie möglich über die Wünsche und Bedürfnisse zu erfahren. Was möchte ich in der letzten Stunde meines Lebens?
Zur Person
Die Hauswirtschaftsmeisterin und Altenpflegerin hat 2010 - unterstützt vom Förderverein des Lukas-Hospiz - zusätzlich ein Diplom in der Schweiz abgelegt: als Fachkraft für gerontopsychiatrische Pflege und Betreuung.
Annegret Müller verabschiedet sich als Koordinatorin des Ambulanten Hospizdienstes Herne, wird aber weiter an der Akademie für Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit Ruhrgebiet (APPH Ruhr) in Herne unterrichten.
Auch der Kreativgruppe des Ambulanten Hospizdienstes will sie treu bleiben.
Mit Mann und Hund lebt Annegret Müller in Oer-Erkenschwick.
Was könnte das sein?
Für mich wäre das schönste Geschenk ein starker Espresso mit Zucker und ein kleines Stückchen Schokolade. Und als Highlight noch ein kleines bisschen Eierlikör. Die kleinen Dinge zählen am Ende. Vielleicht ist es auch ein Lächeln oder eine Berührung. Wenn wir unseren Sterbenden zutrauen, dass sie spüren, wenn sie sterbend sind, sind wir auch bereit, uns darauf einzulassen: Was braucht derjenige noch, um den letzten Schritt alleine zu gehen? Ich frage dann die Angehörigen: Was haben sie immer gerne zusammen getan? Vielleicht sagt die Frau dann: „Wir haben immer gerne Vanilleeis gegessen.“ Daraus könnte sich ein kleines Ritual entwickeln: Immer, wenn ich bei dir bin, essen wir ein bisschen Eis. Das verbindet. Das ist in der Pandemie natürlich allen genommen worden.
Wie können Sie als ambulanter Hospizdienst im Moment trotz der Coronaschutzregeln eine Nähe herstellen?
Wir versuchen es auf verschiedenen Ebenen. Wenn Menschen zum Beispiel sehr unruhig sind, muss man etwas ausprobieren. Manchmal reicht es, wenn jemand nur im Zimmer ist. Ganz in Ruhe etwas vorliest oder vielleicht nur ein Gebet spricht. Wir wissen nicht, warum derjenige so unruhig ist.
Dann würden sie das Abstandsgebot außer Acht lassen?
In das Zimmer zu gehen, ist mit Abstand und Maske kein Problem. Wir müssen nur immer gucken, wie geht es mit der körperlichen Kontaktaufnahme. Neulich hatten wir eine alte Dame, die war auch sehr unruhig. Da habe ich Handschuhe angehabt. Ich konnte die Frau nur über einen Finger erreichen. Irgendwann hat sie diesen Finger gegriffen, dann habe ich an meinem Finger gezogen und sie hat ihn fester gegriffen. Wir sind über diesen Finger in Kommunikation gekommen. Wenn ein Mensch mit Demenz einmal am Tag etwas Schönes erleben darf, gibt ihm das Kraft. Wir können in der Pflege nicht nur schöne Gefühle machen. Aber wir können gucken: Wo können wir mit einem guten Gefühl abschließen? Es braucht dazu viel Mut und wir dürfen nicht aufgeben. Manchmal geht auch so ein Versuch schief. In der Begleitung von Menschen mit Demenz sind wir Detektive.
Was ist Ihre Vision eines glücklichen Endes?
Menschen um mich herum zu haben, die mit ihren verschiedenen Kompetenzen sagen: Ja, auf die Frau Müller möchte ich mich an ihrem Lebensende einlassen. Das Gefühl zu haben, da sind Menschen um mich herum, die versuchen, mich zu verstehen. Mir kann niemand meine Ängste nehmen. Aber dass mich jemand in meinen Ängsten und meinen schönen Momenten begleitet. Menschen, die mit mir den Weg gemeinsam gehen. Den letzten Schritt kann ich dann auch alleine gehen.