Herne. Herne hat keine Kinderklinik, keine Notfallpraxis. Eltern müssen mit blutenden Kindern in Nachbarstädte. SPD sieht Handlungsbedarf, Stadt nicht.
Platzwunden, Knochenbrüche oder hohes Fieber am Wochenende: Derzeit müssen Eltern mit ihren akut erkrankten Kindern zur Behandlung in eine Nachbarstadt fahren. Das muss sich ändern, fordert SPD-Stadtverordnete Theres Boneberger im Namen ihrer Fraktion. Eine Stadt wie Herne müsse eine eigene Kinderstation oder zumindest eine Notfallpraxis speziell für die Kleinsten außerhalb der Sprechstunden der Kinderärzte haben.
„Wenn mein Kind blutet, es hinten alleine im Auto sitzt und ich es nicht trösten kann, weil ich fahren muss, sind 30 Minuten bis nach Witten eine viel zu lange Zeit“, sagt die zweifache Mutter Nicola Henseler. Denn dort befindet sich die nächste Kinderklinik, die sich auch um solche Verletzungen kümmert. Sie ärgert sich: „Der Standort war doch da. Wieso wurde er geschlossen, wissentlich, dass es in der Nähe keine Alternative gibt?“
Seit Anfang 2019 keine Kinderklinik mehr in Herne
Anfang 2019 ist die Herner Kinderchirurgie an das Wittener Marien-Hospital gewechselt. Seitdem gibt es in Herne kein Krankenhaus mit einer entsprechenden Fachabteilung für Kinder mehr. „Wir haben Ärzte auf Focus-Bestenlisten, aber keine Möglichkeit, Kinder in Notfällen zu versorgen“, ärgert sich Theres Boneberger. Die Stadt müsse sich die Frage stellen, wie lebenswert sie für Familien mit Kindern sein wolle. Besonders für Familien, die kein Auto hätten, sei die Situation eine Zumutung.
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Das sieht die Stadt anders: „Das Angebot ist ausreichend“, sagt Stadtsprecher Christoph Hüsken auf WAZ-Anfrage. Durch die Nähe zu den Kinderkliniken in Bochum, Gelsenkirchen, Datteln und auch Witten sei eine gute Erreichbarkeit gewährleistet. „Zusätzlicher Bedarf besteht nach Einschätzung der Stadt nicht.“ Er verweist auf die Möglichkeit für Eltern, bei verletzten oder schwer erkrankten Kindern den Rettungsdienst zu rufen.
1063 Rettungsdienst-Einsätze für Kinder in 2020
Die 112 musste auch Carina Brust rufen als ihr dreijähriger Sohn Paul auf die heiße Herdplatte fasste. Von ihrem Bruder habe sie gewusst, dass solche Verletzungen in Bochum nicht behandelt werden und die Strecke bis nach Witten habe sie sich mit dem wild schreienden Kind nicht zugetraut. Der Rettungsdienst sei sehr nett gewesen, aber sie habe ein schlechtes Gewissen gehabt, ihn für eine Brandverletzung zu rufen, da er dann vielleicht bei einem richtig ernsten Fall fehle. „Das kann doch so nicht richtig sein“, meint sie.
Anlaufstellen mit Kindern
- Neben den niedergelassenen Kinderärzten in Herne und Wanne-Eickel stehen als weitere Anlaufpunkte die Notfalldienst-Praxen an der Kinderklinik Bochum, an der Vestischen Kinderklinik in Datteln, am städtischen Klinikum Dortmund, an der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen sowie an der Kinderklinik in Witten bereit.
- So genannte Bagatellverletzungen (zum Beispiel Platzwunden) werden laut Stadt bei Kindern ab sechs Jahren auch in den Krankenhäusern in Herne versorgt, Kinder ab 14 Jahren werden generell sowohl bei internistischen und neurologischen Krankheiten als auch bei Verletzungen, auch in den Herner Kliniken notfallmäßig behandelt.
- Darüber hinaus werden Kinder mit Knochenbrüchen von Armen und Beinen ab dem sechsten Lebensjahr unfallchirurgisch im Evangelischen Krankenhaus Herne versorgt und bei Bedarf auch operiert. In Notfällen und/oder bei Unfällen ist der Rettungsdienst zu kontaktieren.
Insgesamt 1063 Einsätze sind die Kranken-, Rettungs- und Notarztwagen im Jahr 2020 für Kinder von null bis 18 Jahren gefahren, teilt die Stadt auf Anfrage mit. In manchen Fällen seien zwei Einsätze zum selben Kind gefahren, erklärt Hüsken. Er geht von etwa 880 bis 900 Patienten in der Altersklasse aus. Das mache drei Prozent der Einsatzfahrten aus. „Das liegt im Bundesdurchschnitt“, sagt der Stadtsprecher.
EvK übernimmt nur Notfallversorgung ab dem Schulalter
Am Evangelische Krankenhaus Herne erhielten Schulkinder und Jugendliche eine Notfallversorgung, sagt Danh Vu, Verwaltungsdirektor des EvK. „Ambulant in der Notaufnahme bekommen wir pro Jahr 500 bis 600 Fälle zu sehen“, sagt Danh Vu, zehn bis 15 stationär. Nach der Notfallversorgung erfolge zur stationären Anschlussversorgung eine Verlegung in die Kinderkliniken der Nachbarstädte. „Mit diesem Verfahren folgen wir dem ausdrücklichen Wunsch der Stadt Herne und des Rettungsdienstes“, so der Verwaltungsdirektor.
Er sieht anders als die Stadt durchaus Bedarf für eine Notfallpraxis: „Wir sehen die Mangelsituation und können den Wunsch nach einer solchen Praxis gut nachvollziehen“, sagt Danh Vu. „Für Gespräche steht das EvK stets zur Verfügung, allerdings mit der Einschränkung, dass wir im stationären Bereich nicht die spezifischen Versorgungsbedingungen für Kinder vorhalten können.“
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Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe sieht jedoch wie die Stadt derzeit keinen Handlungsbedarf und verweist auf WAZ-Anfrage auf die fünf Notfalldienstpraxen in Bochum, Datteln, Dortmund, Gelsenkirchen und Witten. „Die Versorgung der Kinder aus Herne außerhalb der regulären Sprechstundenzeiten ist also durch ein breites Angebot in der näheren Umgebung sichergestellt“, sagt Sprecherin Jana Elbert. Außerdem verweist sie auf die Vorteile, wenn eine Notfallpraxis direkt zur Weiterbehandlung an ein Krankenhaus angebunden sei. Eine weitere kinderärztliche Notfalldienstpraxis sei in Herne derzeit deshalb nicht angedacht.
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