Herne. Am 1. Mai gibt es diesmal keine Demo der Gewerkschaften. Zum Tag der Arbeit sprach die WAZ mit Eva Kerkemeier (IG Metall) und Eric Lobach (DGB).
Der 1. Mai - das ist traditionell der Tag der Arbeit, der Tag der Gewerkschaften. Doch in diesem Jahr fallen Demonstrationen der Gewerkschaften wegen der Coronakrise aus. Doch für die Gewerkschaften gibt es trotz- und wegen - Corona viel Arbeit. Das erläutern Hernes DGB-Chef Eric Lobach und Eva Kerkemeier, 1. Bevollmächtigte der IG Metall - die als Hauptrednerin in Herne für den 1. Mai eingeplant war -, im Interview mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann.
Wie stellt sich die Krise aus Sicht der Gewerkschaft dar, etwa mit dem Blick auf die Unternehmen?
Kerkemeier: Wir als IG Metall haben eine Abfrage in den Unternehmen gemacht. Mehr als die Hälfte der Betriebe aus unserem Bereich ist in Kurzarbeit, weitere 20 Prozent rechnen damit, dass sie im Mai in Kurzarbeit gehen müssen. Der am meisten genannte Grund für die Kurzarbeit sind die wegbrechenden Aufträge. Das gilt selbst für bestätigte Aufträge.
Gab es Probleme bei der Einführung der Kurzarbeit?
Kerkemeier: In den meisten Betrieben lief die Einführung gut, Betriebsräte und Geschäftsführungen stimmen sich sauber ab. Leider gibt es in Herne keine Betriebe, in denen Betriebsräte eine Aufstockung des Kurzarbeitergelds auf mindestens 80 Prozent durchsetzen konnten. Die Mittelständler, die wir in Herne haben, sind von ihrer Liquidität an der Grenze. Deshalb haben wir ja mit dem DGB politisch gefordert, dass das Kurzarbeitergeld auf 80 Prozent erhöht wird. Daher sind die jetzt im Koalitionsausschuss beschlossenen Verbesserungen (70 Prozent ab dem vierten Monat und 80 Prozent ab dem 7. Monat Kurzarbeit) ein Schritt in die richtige Richtung. Aber für Beschäftigte, die im unteren Drittel mit ihren Einkommen sind, für die ist es schon im ersten Monat tragisch, wenn 40 Prozent des Gehalts fehlen. In diesem Zusammenhang ist auch gut, dass die Bezugsdauer sowohl von Kurzarbeitergeld als auch des Arbeitslosengelds verlängert wurden.
Wie schlimm kann die Coronakrise aus Ihrer Sicht die Unternehmen treffen?
Kerkemeier: Ich glaube, dass bei einer längeren Krise bei einigen kleineren Unternehmen die Liquidität nicht reicht und dass sie in die Insolvenz gehen werden. Junge Unternehmen ohne Rücklagen werden am ehesten leiden, ebenso solche, bei denen es vor Corona nicht gut lief.
Die Unternehmen sind ein Problemfeld, die städtischen Finanzen ein anderes...
Lobach: ...genau, wir waren ja auf der Ziellinie bei den Verhandlungen über einen Altschuldenschnitt für die Kommunen. Da gab es ja Zusagen vom Bundesfinanzminister, die Landesregierung hat sich noch ein wenig geziert. In der jetzigen Situation wird es noch schwieriger. Herne hat nach jetzigen Schätzungen nur in diesem Jahr bis zu 80 Millionen Euro Einnahmeausfälle, aber das wird sich ja in den kommenden Jahren fortsetzen.
Hernes Kämmerer Hans Werner Klee hat im Gespräch mit der WAZ gesagt, dass gerade jetzt der Altschuldenschnitt kommen muss.
Kerkemeier: Natürlich. Es macht ja keinen Sinn, in der jetzigen Situation weiter zu sparen. Wir haben doch jetzt gemerkt, wo in den vergangenen Jahren viel zu viel gespart worden ist. Krankenhäuser, eigentlich das gesamte Gesundheitssystem. Das ganze Pflegesystem. Da ist massiv gekürzt worden. Die Krise muss dazu führen, dass wir daraus lernen. Also muss man Geld in die Hand nehmen, um Krankenhäuser zu finanzieren. Und natürlich, um die Gehälter der dort Beschäftigten anzuheben. Wenn die alle so wichtig sind und die großen Helden, dann sollte man die Helden nicht mit einem Orden abspeisen.
Wie können die Gewerkschaften Druck machen, um diese Forderung umzusetzen?
Kerkemeier: In der jetzigen Situation werden wir als Gewerkschaften die Unterstützung der Bevölkerung bekommen. Weil jetzt jeder merkt, wie wichtig anständige Schulen, Kitas oder Pflege sind.
Lobach: Unsere Kernbotschaft ist, dass die Menschen einer Gewerkschaft beitreten sollen, nur in der Gemeinschaft können wir was erkämpfen. Zusätzlich kann sich der DGB für gute politische Rahmenbedingungen einsetzen. Auch in der Vergangenheit ist immer schon beteuert worden, wie wichtig diese Berufe sind, aber wenn es ums Gehalt ging, dann wurde es immer schwierig. Ich habe wenig Hoffnung, dass die Arbeitgeber von sich aus die Gehälter anheben.
Haben Sie ein Beispiel?
Lobach: Verdi hat gerade Tarifverhandlungen im ÖPNV vorbereitet, eine der tragenden Säulen zurzeit und besonders betroffen. Im ÖPNV gibt es seit Jahren eine abgesenkte Eingruppierung für Berufsanfänger, dass wollen viele Kollegen nicht mehr so hinnehmen. Aber das wird sicherlich eine harte Tarifauseinandersetzung.
Stecken Gewerkschaften nicht in einer Art Zwickmühle, um zum Beispiel in Tarifverhandlungen Druck aufzubauen? Wenn zum Beispiel die Kitas geöffnet werden, zum Warnstreik aufzurufen?
Kerkemeier: Das meinte ich ja mit Unterstützung in der Bevölkerung. Sicher wird jeder froh sein, wenn wieder normaler Betrieb in den Kitas ist, aber jeder hat jetzt auch gemerkt, wie wichtig sie sind und wie wichtig es ist, gut qualifiziertes und bezahltes Personal zu bekommen.
Lobach: Aber die Rahmenbedingungen werden wegen der kommunalen Finanzensituation leider nicht besser. An Wohlwollen der Stadtspitze hat es in der Vergangenheit, gerade in Herne, nie gefehlt, aber am Verhandlungstisch sitzen dann die Verhandlungsführer der Arbeitgeberverbände. Und die gilt es dann in der Tarifauseinandersetzung durch entsprechenden Druck von unserer Durchsetzungskraft zu überzeugen.
Welche Dinge im Arbeitsleben verändert Corona noch?
Lobach: Das Thema Arbeitsschutz. Die Leute, die sich dafür einsetzen, haben schnell den Stempel des Besserwissers. Absoluter Vorrang muss aber die Gesundheit der Beschäftigten haben. Gesundheitsschutz muss an oberster Stelle stehen, wenn Arbeit im Betrieb und in der Dienststelle wieder aufgenommen wird. Es darf nicht weggeschaut werden, nur weil es gerade einfacher ist.
Kerkemeier: Auch das Thema Homeoffice wird in Zukunft anders diskutiert. Auf der einen Seite positiv, dass selbst in Betrieben, wo die Arbeitgeber immer gesagt haben, dass das gar nicht geht, sich nun zeigt, dass es doch funktioniert. Auf der anderen Seite gibt es ja die Beschäftigten, die zurück in den Betrieb wollen. Ich habe selbst Homeoffice gemacht.
Und wie war Ihre Erfahrung?
Absage der Mai-Kundgebung nicht leicht gemacht
Der DGB habe sich die Absage der Mai-Kundgebung nicht leicht gemacht, so Herner DGB-Vorsitzender Eric Lobach im Gespräch mit der WAZ. Aber es wäre unverantwortlich gewesen, an der Planung festzuhalten. Damit verzichte der DGB nicht auf sein Grundrecht der Demonstrationsfreiheit, sondern verzichte freiwillig. Denn es gebe auch ein Grundrecht auf Gesundheit. Die Themen seien wichtig, die Demonstrationen seien nur ein Mittel, um sie zu transportieren, so Eva Kerkemeier. Dies sei wichtig zu betonen, weil es an den politischen Rändern bereits Vorwürfe gebe, dass die Grundrechte eingeschränkt würden.
Statt Maikundgebungen des DGB wird es erstmals einen Livestream geben. Dabei sein werden Künstler wie MIA, Heinz Rudolf Kunze, Jocelyn B. Smith, Konstatin Wecker, Sarah Lesch und Thorsten Stelzner. Angeboten werden weiterhin interaktiven Online-Mitmach-Aktionen, wie das virtuelles Chor-Projekt „You’ll never walk alone” oder die Mitmach-Aktion „Was bedeutet Solidarität für Dich?“ Infos unter: https://www.dgb.de/erster-mai-tag-der-arbeit
Kerkemeier: Es ist eine Vereinsamung, das Gespräch mit den Kollegen fehlt. Das man sich bei Verhandlungen in die Augen schaut, einen Menschen gegenüber zu haben und nicht ein Videobild. Das macht mit der Zeit ganz schön fertig. Außerdem ist Homeoffice eine Leistungsverdichtung, wenn man nur mit Videokonferenz arbeitet. Es wird zukünftig sicherlich mehr Homeoffice geben, aber dafür müssen Richtlinien aufgestellt werden. Das wird auch Wirkungen auf die Arbeit von Betriebs- und Personalräten haben. Vielleicht fragt der Arbeitgeber, warum sich ein Betriebsrat einmal in der Woche treffen will, wenn es doch mit Videokonferenz geht.
Lobach: Außerdem muss man aufpassen, dass die Mitarbeiter nicht zu viel im Homeoffice arbeiten, weil sie dann noch bis abends um acht, neun Uhr am PC sitzen.
Die Coronakrise bringt für Sie teilweise ganz neue Themen. Welche Themen sind erst mal in den Hintergrund getreten?
Kerkemeier: Für den 1. Mai wären die betriebliche Mitbestimmung allgemein sowie die Tarifbindung ein riesengroßes Thema gewesen. Die soziale Sicherung, die Rente stehen natürlich weiterhin ganz oben auf der Tagesordnung. Auch da gibt es riesige Lücken. Und Europa. Corona überdeckt die schlimmsten Flüchtlingsthemen. Diese Themen sind alles andere als weg vom Tisch.
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