Herne. Sondermüll oder Brennstoff? Das Land gibt in einem Bericht über einen in Herne über Jahre verbrannten Raffinerie-Rückstand eine klare Antwort.
Neues in Sachen „Petrolkoks von Shell“: Bei dem Rückstand aus einer Raffinerie des Unternehmens in Wesseling (Rheinland) handelt es sich nach Einschätzung des NRW-Umweltministeriums um gefährlichen Abfall. Heißt: Der Stoff hätte nicht über viele Jahre im Wanner Hafen umgeschlagen und im Herner Steag-Kraftwerk verbrannt werden dürfen. Das geht aus einem neuen Sachstandsbericht des Landes hervor. In Herne wird der Ruf nach weiteren Untersuchungen über mögliche gesundheitliche Gefahren laut.
Die Auswertung habe ergeben, dass der als Nebenprodukt bei der Schwerölvergasung in der Raffinerie entstehende Rückstand Nickelsulfid bzw. Nickel und Vanadium erhalte und damit als gefährlicher Abfall einzustufen sei, so das Umweltministerium in einer aktuellen Vorlage. Dieser neue Bericht steht am Mittwoch, 30. Oktober, auf der Tagesordnung des NRW-Umweltausschusses.
Verbrennung „mit dem Wissen von heute“ nicht zulässig
Bereits in den 90er-Jahren hatte Shell den Rückstand als Petrolkoks deklariert; 1997 folgte die zuständige Bezirksregierung Köln dieser Bewertung. Seitdem wurde der Stoff bis Mitte 2019 in insgesamt 23 Anlagen verbrannt oder verarbeitet - unter anderem in vier Kraftwerken, zwei Ziegeleien und der Kokerei Bottrop.
„Mit dem Wissen von heute“ hätte die Verbrennung dieses Rückstands nicht genehmigt werden dürfen, so das Umweltministerium. Allerdings habe es zum Zeitpunkt der ersten Genehmigung durch die Bezirksregierung Köln für Petrolkoks „keine Legaldefinitionen oder technische Spezifikationen“ gegeben. Auch die bisherigen Untersuchungen der Anlagen, in denen der Rückstand mit Genehmigung der jeweils zuständigen Behörden verbrannt worden sei, hätten keine Hinweise auf ein möglicherweise straf- oder ordnungsrechtlich relevantes Verhalten ergeben.
Land: Grenzwerte bei Emissionen nicht überschritten
Auch die Bezirksregierung Arnsberg genehmigte 1997, dass im Baukauer Steag-Kraftwerk bei der Verbrennung von Steinkohle bis zu 20 Prozent Petrolkoks als „Regelbrennstoff“ zugefügt werden darf. Bis zur Stilllegung von Block III im Jahr 2017 ist dies auch geschehen. Mit möglichen gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung? Dazu erklärt das Ministerium: Eine „erste Sichtung“ der noch vorliegenden Ergebnisse der Emissionsüberwachung der Steag-Kraftwerke Herne und Lünen hätten ergeben, dass „dort keine Hinweise auf eine Überschreitung der entsprechenden Grenzwerte für Nickel und Vanadium vorliegen“.
Kein Wort verliert das Ministerium in seinem Bericht darüber, ob Menschen, die mit dem gefährlichen Abfall über Jahre in Berührung gekommen sind, mittel- oder langfristig gesundheitliche Folgen zu befürchten haben. Betroffen wären davon auch Mitarbeiter der Wanne-Herner Eisenbahn (WHE), die über viele Jahre im Hafen für den Umschlag des Rückstandes im Hafen sorgten. Im Zuge des Skandals um die illegale Entsorgung von Ölpellets der Firma BP hatten (ehemalige) WHE-Mitarbeiter Anfang 2019 Alarm geschlagen. Sie berichteten, dass der Brennstoff zu Reizungen von Luftwegen, Augen und Haut geführt habe - und brachten damit die Diskussion um Petrolkoks ins Rollen. Nach ersten Medienberichten - unter anderem auch der WAZ - stoppte das Land die langjährige Praxis.
Früherer WHE-Betriebsrat fordert Klarheit
„Ich bin entsetzt“, sagt der frühere WHE-Betriebsrat Winfried Kohs nun über den neuen Bericht des Landes. Er könne nicht nachvollziehen, wie die Bezirksregierung die Verbrennung des gefährlichen Stoff vor über 20 Jahren habe genehmigen können. „Das war fahrlässig.“ Kohs, Mitglied im Herner Verdi-Vorstand, fordert das Land dazu auf, hinsichtlich möglicher gesundheitlicher Folgen beim Umgang mit dem Rückstand „für Klarheit zu sorgen“. Und er will Aufklärung darüber, was die jeweiligen Herner WHE-Geschäftsführer über die Verbrennung des Rückstands wussten.
Land will WHE-Hinweisen nachgehen
Das Umweltministerium erklärte am Dienstagabend auf Anfrage der WAZ, dass dem Land keine Erkenntnisse über gesundheitliche Beeinträchtigungen von Mitarbeitern vorlägen, die mit den Rückständen in Berührung gekommen seien. „Wir gehen dem in Zusammenarbeit mit den für Arbeitsschutz zuständigen Behörden nach“, so eine Sprecherin des Ministeriums.
Zum Nickelsulfid in den Shell-Rückständen erklärte das Land: „Ein nickelsulfidhaltiges Material ist dann als gefährlicher Abfall einzustufen, wenn der Gehalt an Nickelsulfid 1.000 mg/kg überschreitet.“ Es seien mehr als 100 Untersuchungsergebnisse des Landesumweltamtes und der Shell Rheinland Raffinerie ausgewertet worden - „mit dem Ergebnis, dass rund 20 Prozent der Analysewerte für Nickelsulfid diesen Grenzwert überschreiten“.
Der Bericht des Landes zeige, dass sie sich stets im Einklang mit geltenden Genehmigungen verhalten hätten, so ein Sprecher der Shell-Raffinerie zur WAZ. Fehler oder Versäumnisse habe es nicht gegeben. Außerdem unterstreiche die Stellungnahme des Umweltministeriums, dass in allen Anlagen einem Einsatz des nunmehr als „abfiltrierten Ruß“ bezeichneten Petrolkokses ausdrücklich zugestimmt worden sei und dass es keine Grenzwertüberschreitungen gegeben habe.
Das Unternehmen verweist zudem darauf, in dem Verfahren sehr eng mit den Behörden kooperiert zu haben. Bereits im Juli 2019 hätten sie zugestimmt, den Rückstand wie gefährlichen Abfall zu behandeln. Damit sei für alle Beteiligten Rechts- und Planungssicherheit geschaffen worden. Die Frage, welche Folgen das zu hohen Kosten führende Umdeklarieren des Rückstandes für das Werk in Wesseling hat, lässt das Unternehmen unbeantwortet.
Grüne kritisieren Shell und die Landesregierung
Die Landtagsfraktion der Grünen fühlt sich durch den „von uns nachgefragten Bericht“ des Umweltministeriums bestätigt. Die Rückstände aus der Schwerölvergasung hätten niemals als Regelbrennstoff eingesetzt werden dürfen, so der umweltpolitische Fraktionssprecher Norwich Rüße auf Anfrage.
Als Folge der behördlichen Genehmigung sei der toxische Abfall in 23 nicht dafür vorgesehenen Anlagen verbrannt, gelagert oder deponiert worden. „Es ist fahrlässig, dass die Landesregierung aus diesem Umweltskandal bisher keine abfallrechtlichen Konsequenzen gezogen hat“, so Rüße. Und: Trotz der offensichtlichen Verstöße gegen geltendes Immissionsschutzrecht sehe die Landesregierung in diesem Abfallskandal auch keinen strafrechtlichen Tatbestand.
„Es kann nicht sein, dass sich ein Großkonzern hier aus seiner Verantwortung stiehlt und durch sein Verhalten einmal mehr das Vertrauen der Bevölkerung in den Industriestandort NRW aufs Spiel setzt“, erklärt Rüße. Der Bericht lasse auch größtenteils offen, welche Standorte betroffen sind. Somit sei noch nicht klar, wo neben Herne, Bottrop, Lünen und Dinslaken in Nordrhein-Westfalen die gesundheitsgefährdenden Schadstoffe möglicherweise freigesetzt worden seien. „Die Landesregierung trägt dem Informationsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend Rechnung“ so die Grünen.
Das Umweltministerium erklärte dagegen in ihrem Bericht, „größtmögliche Transparenz“ anzustreben. Die meisten der beteiligten Firmen hätten ihr Einverständnis zur Veröffentlichung der entsprechenden Daten bisher nicht erteilt. Sie arbeiteten aber daran und würde die Liste der Unternehmen nach Ablauf der Verfahren nachreichen, heißt es.