Herne. . Professor Hans-Peter Noll spricht über seine Gefühle beim Abschied des Bergbaus, über die Zukunft der Region - und über das Paninialbum.

Der Bergbau im Ruhrgebiet ist seit Jahrzehnten eine Geschichte des Abschieds und des Wandels. Professor Hans-Peter Noll, designierter Vorstandsvorsitzender der Stiftung Zollverein - mit Wohnsitz Herne - erläutert im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann seine lange familiäre und berufliche Beziehung zum Bergbau und seine Sicht auf den Abschied und den Strukturwandel.

Sammeln Sie eigentlich die Panini-Bilder zum Abschied des Bergbaus?

Noll: Ja! Ich habe morgens in der WAZ das Heft gefunden und gleich noch ein zweites gekauft, weil ich mir sage, in 20 Jahren ist das was wert. Wir sind die Generation, nach der, was den Bergbau angeht, nichts mehr kommt. Deshalb ist diese Aktion mit den Paninibildern wunderbar, eine schöne Erinnerung.

Stichwort Erinnerung: In elf Monaten wird der deutsche Steinkohlebergbau Geschichte sein. Was geht da in Ihnen vor?

Ich habe durchaus gemischte Gefühle. Aus meiner alten Tätigkeit und als Kind des Ruhrgebiets habe ich über 30 Jahre lang den schleichenden Rückzug des Bergbaus miterlebt. Von daher ist es eine lange Geschichte des Leidens und des Stilllegens. Und in meiner beruflichen Laufbahn habe ich das all die Jahre aktiv mitbegleitet. Es gab viele kleine Tode, wenn man so will. Das beste Beispiel ist das Berufsleben meines eigenen Vaters: Er hat auf Kaiserstuhl in Dortmund gelernt, ist dann nach Mont-Cenis gegangen, dann nach Hannibal, die hat er stillgelegt. Von dort kam er nach Constantin der Große und hat auch diese Zeche stillgelegt. Zuletzt hat er auf General Blumenthal gearbeitet und von dort ist er in den Vorruhestand gegangen. Jetzt kommt so langsam das Bewusstsein, dass eine Ära tatsächlich zu Ende geht.

Auch eine persönliche Ära?

Ja. Vater, Onkel und Uropa waren unter Tage, ich bin als Geograf an der Erdoberfläche geblieben, habe alte Bergbaustandorte mitentwickeln dürfen, und meine beiden Söhne sollen dort wieder einen Arbeitsplatz finden. Dann ist meine persönliche Geschichte rund.

Sie haben zwar häufig Abschied genommen, aber als Geschäftsführer der RAG Montan Immobilien haben Sie oft für einen Wiederanfang gesorgt...

Das stimmt: Ewald, Bergwerk West, Auguste Viktoria oder General Blumenthal in Wanne-Süd, wo ich meine Bergbaubeflissenheitszeit gemacht habe: Das sind alles Beispiele für Wiederanfang. Ich sage immer: Wenn der Förderturm fällt, dann hat das zwar mit Trauer und Abschied zu tun. Andererseits muss das ein Startzeichen für einen Neubeginn, für Aufbruch, für Zukunft sein. Strukturwandel beginnt im Kopf, der Rest ist Handwerk. Aber es ist schwer, den mentalen Wandel hinzubekommen. Aus einer Stätte der Niederlage einen Zukunftsstandort zu machen, das muss man sich zunächst im Kopf klarmachen. Auf diese mentale Wandlungskompetenz im Ruhrgebiet könnten wir eigentlich viel stolzer sein.

Zeche Hannibal gehört zu Nolls ersten Erinnerungen an den Bergbau
Zeche Hannibal gehört zu Nolls ersten Erinnerungen an den Bergbau

Was sind Ihre ersten Erinnerungen an den Bergbau?

Die erste Erinnerung ist Zeche Hannibal. Zu Weihnachten wurden wir als Kinder auf Mont-Cenis eingesammelt und nach Hannibal gebracht zu einem Weihnachtsfest im alten Casino der Zeche. Die zweite Erinnerung ist meine erste Grubenfahrt mit 14 Jahren auf Zeche Constantin der Große. Mein Vater hatte mich heimlich mitgenommen. Das war für mich ein beeindruckendes Erlebnis. Und die dritte war auf der Zeche Hannibal, als mein Vater mich mitgenommen hat auf die Turmfördermaschine.

Besteht angesichts der vielen Rückschauen in diesem Jahr die Gefahr, dass der Steinkohlebergbau zu sehr romantisiert wird?

Es gibt immer eine historische Verklärung. Ich habe mit meinem Vater den Film „Der lange Abschied von der Kohle“ gesehen. Und danach hat er erzählt, dass das nicht immer nur alles Kumpels waren. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass unter Tage auch viel geschrieen wurde. Dazu kamen die Unglücke. Andererseits waren der Bergbau und das Leben ganzer Stadtteile sehr eng miteinander verbunden. Den Stadtteil Sodingen zum Beispiel gibt es nur in dieser Größe, weil es die Zeche Mont-Cenis gab.

Auf die Umwandlung des Zechengeländes Mont-Cenis zur Fortbildungsakademie ist Hans-Peter Noll stolz. Der Bau begeistere ihn noch immer.
Auf die Umwandlung des Zechengeländes Mont-Cenis zur Fortbildungsakademie ist Hans-Peter Noll stolz. Der Bau begeistere ihn noch immer.

Apropos Mont-Cenis: Wie blicken Sie heute auf die Fortbildungsakademie?

Auf dieses Gebäude mit seiner spektakulären Klimahülle bin ich sehr stolz, und der Bau begeistert mich noch immer. Ich ärgere mich manchmal über den Unterhaltungszustand, denn das Gebäude ist ja eine Weltsensation. Wir durften das Modell auf der Weltklimakonferenz in Kyoto für beispielhaftes klimafreundliches Bauen präsentieren. Dieser spektakuläre Bau ist wie ein sagenhaftes Raumschiff, das in Sodingen gelandet ist und etwas ganz Besonderes, für das sich Besucher aus aller Welt interessieren.

Soll am 1. Januar 2019 die Rückschau endgültig vorbei sein?

Das ist eine Gratwanderung. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht nur zurückblicken, sondern auch Impulse für die Zukunft setzen. Und es gibt auch viele Projekte von der RAG oder der RAG-Stiftung, die in die Zukunft weisen. In diesem, aber auch noch im nächsten Jahr wird es daher einerseits ein Revival von Bergbau-Devotionalien und -erinnerungen geben, andererseits müssen wir nach vorne schauen. Vor allem dürfen wir keine Angst vor dem Wandel haben, denn wir können viele Erfolge des Wandels selbstbewusst zeigen.

Wie sehen Sie den Wandel fürs Ruhrgebiet?

Es ist bereits sehr viel geschehen, aber gemessen an dem, was um uns herum in der Welt passiert, ist das zu langsam.

Was muss denn passieren?

Ein geschlossenes Auftreten der Region ist wichtig, für das Ruhrgebiet vielleicht sogar überlebenswichtig. Wenn es darum geht, auf dem Weltmarkt – etwa in China – um Kunden und Investoren zu werben, hat eine einzelne Stadt in der globalen Konkurrenz keine Chance, wahrgenommen zu werden. Deshalb müssen wir in großen Dimensionen denken und die Kräfte bündeln, auch nach innen. Das muss beispielsweise beim ÖPNV losgehen. Wir sind keine Metropole, wenn wir kein funktionierendes regionales ÖPNV-System haben.

Was könnten Zukunftsbranchen im Ruhrgebiet sein?

Ich glaube, dass es ein Revival der Industrialisierung gibt, beispielsweise durch die Herausforderungen der Digitalisierung. Das zweite Thema ist Ressourceneffizienz, also die Frage wie man sinnvoll mit Wertstoffen umgeht. Auch Gesundheitswirtschaft wird ein Thema sein, und E-Mobilität ist für einen Ballungsraum ohnehin immer ein Thema.

Sie haben die Chinesen erwähnt. Können die Chinesen bei uns den Strukturwandel lernen?

2005 war der damalige Staatspräsidenten Hu Jintao auf Deutschlandbesuch, und ich durfte ihm im Ruhrgebiet erfolgreiche Beispiel für den Strukturwandel zeigen. Das erste, was die Delegation interessierte, war die Frage, wie die Region den Wandel ohne soziale Unruhen und Verwerfungen gemeistert hat. Denn dieser strukturelle Wandel, den wir in den vergangenen Jahrzehnten bewältigt haben, den haben die Chinesen quasi im Zeitraffer in wenigen Jahren vollzogen. Darin steckt natürlich sozialer Sprengstoff. Die Chinesen haben uns auch gefragt, warum wir die alten Gebäude nicht abgerissen haben. Unsere Antwort lautete, dass die gebaute Umwelt ein wichtiger identitätsstiftender Faktor ist. Wenn Planer aus China nach Europa kommen, ist der Besuch im Ruhrgebiet fast Kult, denn alle wollen von uns lernen. Strukturwandel ist in China ein Riesenthema, auch unter Umweltaspekten. Wir sollten daraus einen Exportschlager machen.

Der Förderturm der ehemaligen Zeche Pluto wird erhalten. Professor Hans-Peter Noll hätte ihn abreißen lassen, weil er keine Funktion mehr hat.
Der Förderturm der ehemaligen Zeche Pluto wird erhalten. Professor Hans-Peter Noll hätte ihn abreißen lassen, weil er keine Funktion mehr hat.

Apropos Abriss. Auf Pluto in Bickern bleibt der Förderturm nun doch stehen und wird erhalten. Wie groß ist die Bedeutung des Turms für die Bevölkerung, aber auch für Sie?

Ich hätte den Turm abgerissen, auch weil es keine Nutzung für ihn gibt. Ich habe sehr viele Diskussionen über den Erhalt von Fördertürmen und Fördergerüsten miterlebt. Es ist richtig: Industriekultur ist ein Alleinstellungsmerkmal für das Ruhrgebiet, deshalb müssen wir pfleglich mit den baulichen Hinterlassenschaften der Kohle- und Stahlära umgehen. Aber man muss den Erinnerungsprozess organisieren und auch finanzieren. Deshalb können wir nicht alles erhalten. Wir sind gezwungen, uns zu konzentrieren, also eine Auswahl zu treffen. Um dann an ausgewählten Orten so perfekt wie möglich einen Erhaltungs- und Nachnutzungsprozess zu planen.

Aber Sie haben ja gesagt, dass solche Bauwerke identitätsstiftend sind.

Ja, aber: Dann müssen sie in einem Kontext stehen. Nur ein einzelnes Gebäude ist meiner Meinung nach nicht identitätsstiftend. Ich habe Respekt davor, wenn viele Bürger ihre Verbundenheit mit diesen Erinnerungsorten zum Ausdruck bringen, aber man muss auch über die Sinnhaftigkeit des Erhalts und über finanzielle Ressourcen diskutieren dürfen. Nicht jede Stadt muss und kann alles haben.

Herne hat die Bergbaugeschichte hinter sich gelassen und sich auf den Weg in die Zukunft gemacht. Wie beurteilen Sie die bisherigen Ergebnisse?

Die Vielzahl der neuen und guten Initiativen ist bemerkenswert. Herne investiert in Zukunftsbereiche, die Stadt hat einen klaren Plan. Diese Stadt, in der ich gerne lebe, entwickelt sich gut. Aber alleine wird sie es nie schaffen. Ein erfolgreicher, nachhaltiger Wandel gelingt nur mit innovativen Partnern und in regionaler Zusammenarbeit, deshalb müssen wir noch viel intensiver an unserer Zukunftsfähigkeit arbeiten.

>> ZUR PERSON

Professor Hans-Peter Noll wurde 1959 in Datteln geboren, in seiner frühen Kindheit zog seine Familie nach Herne. Noll lebt nach wie vor in Herne.

Er besuchte die evangelische Grundschule in Sodingen und das Otto-Hahn-Gymnasium. An der Ruhr-Uni Bochum promovierte er zum Thema „Nordwanderung des Steinkohlenbergbaus“.

Von 1989 bis 1992 war er Projektleiter bei der Montan- Grundstücksentwicklungs­gesellschaft der Ruhrkohle AG. Von 1998 bis 2017 war er Geschäftsführer der RAG Montan Immobilien GmbH. Seit Oktober 2017 ist er im Vorstand der Stiftung Zollverein, im Juni wird er Vorstandsvorsitzender.