herne. . Ralf Piorr hat im Stadtarchiv eine anonyme Erzählung entdeckt. Sie schildert ohne Sentimentalität das Leben unter Tage in den 1930er-Jahren.
- Im Stadtarchiv fand der Herner Historiker Ralf Piorr vor zwei Jahren das Typoskript eines unbekannten Autors
- Dieser schildert ungeschönt die Verhältnisse unter Tage und ihr Leiden an Silikose
- Da alle Recherchen nicht zum Ziel führten, gibt Piorr das Buch jetzt ohne Autorennennung heraus
Es war ein Zufallsfund. In einem Stapel unsortierter Dokumente entdeckte der Herner Historiker Ralf Piorr vor zwei Jahren zwei Kladden mit einem Typoskript. „Stadtarchiv Herne 4690 Herne“ stand auf einem Stempel. Ein Verweis darauf, dass das Dokument in den 1980er Jahren in Eickel entgegengenommen worden sein muss. Piorr las die Seiten an und war gleich elektrisiert: „Eine erstaunliche Erzählung aus der Welt des Bergbaus“, war sein erster Eindruck. Ein Urteil, das später andere bestätigten. Aber wer hatte sie geschrieben?
Zeche könnte Hannover oder Hannibal sein
„Der Autor war definitiv Bergarbeiter“, ist sich der Historiker heute sicher. Die Detailkenntnis, mit der er das Geschehen unter Tage beschrieben habe, lasse keinen anderen Schluss zu. Anhand von Indizien aus der Geschichte grenzte Piorr dann Ort und Zeit weiter ein. „Der Text wurde vermutlich Mitte der 1960er-Jahre geschrieben“, sagt er. Der Autor müsse um 1914 geboren sein. Schauplatz könnten die Krupp-Zechen Hannover oder Hannibal an der Stadtgrenze zwischen Bochum und Wanne-Eickel gewesen sein. Die Kolonie sei möglicherweise die Kappes-Kolonie in Bochum-Hordel, die Kruppsche Siedlung in Eickel oder eine Siedlung in Röhlinghausen. nimmt Ralf Piorr an.
Was den Text von anderen Geschichten über den Bergbau unterscheidet, ist der Verzicht auf Pathos. Nüchtern bis desillusioniert beschreibt der Rentner Thomas Kwasny im Rückblick das harte Leben der Bergleute, die wie er im Flöz Luise des (fiktiven) Bergwerks „Vereinigte Höhen und Tiefen“ ihr Brot verdient haben. Anlass ist der Tod seines Kollegen Bernhard Holler. Wie so viele vor ihm ist er mit 52 Jahren der Silikose, der Staublunge, erlegen. Der „weiße Tod“, wie die tückische Krankheit auch genannt wird. Kwasny kennt die Symptome genau bis zum bitteren Ende, wenn der Arzt geht und der Priester kommt.
Mühevolle und gefährliche Arbeit im Flöz Luise
Jenseits aller „Glückauf“-Romantik zeichnet der unbekannte Autor ein schonungsloses Bild der Arbeit unter Tage mit ihren Mühen und Gefahren. So wird ein junger Kumpel, Anton Urbanski, im Flöz von einem „Sargdeckel“ erschlagen, und ein Steiger fällt in den Sumpf des Blindschachtes.
Gezeichnet wird ein Bild der Arbeitsverhältnisse in den 1930er- und frühen 40er-Jahren, an denen die politischen Verhältnisse nicht vorbei gehen. Die Arbeit wird verdichtet, die Gesinnung wird zweitrangig. Die Kumpel fahren Sonderschichten. „Kohle für Koks und Koks, um Eisen für Granaten zu schmelzen, Kohle für Dieselöl, dass die U-Boote durch die Meere brausen konnten, Kohle für Benzin für Bombenflieger und Panzer.“
Recherchen nach dem Autor blieben ergebnislos
Trotz intensiver Recherchen gelang es Ralf Piorr nicht, den Autor herauszufinden. Weder der Leiter des Stadtarchivs, Jürgen Hagen, noch sein Vorgänger Manfred Hildebrand oder Frank Sichau von der Gesellschaft für Heimatkunde hatten einen sicheren Tipp. Auch die Suche in den Sammlungen des Bochumer Bergbaumuseums und des Fritz-Hüser-Instituts für Kultur und Literatur der Arbeitswelt in Dortmund blieben erfolglos.
Dessen Mitarbeiter Arnold Maxwill zeigte sich ebenso beeindruckt von der Erzählung wie Ralf Piorr. „Schonungslos, detailliert und kritisch-nüchtern. So wird berichtet. Hierin liegt die Brisanz der Männer von Luise. Adäquater kann man sich der Drastik des Ruhrbergbaus kaum nähern“, urteilte Maxwill.
Herausgeber hofft auf weitere Hinweise
Seine Nachbetrachtung und ein Nachwort Piorrs plus Glossar - mit Ausdrücken aus der Bergmannssprache und Erklärungen - ergänzen den Text, den Piorr nun ohne Autorennennung publiziert.
„Es gab die Idee, dass es der Künstler Albert Kelterbaum gewesen ist“, sagt er, doch dieser habe nur gezeichnet. Ein weiterer Kandidat war der Autor Hans-Bernd Hellerbach, aber hier passten Zeit und Stil nicht. Noch hat Piorr die Hoffnung auf Hinweise nicht ganz aufgegeben. Dass der Autor der Erzählung noch lebt, hält er für unwahrscheinlich. Er müsste über 100 Jahre alt sein.