Herne. . Der Herner Kieferorthopäde Prof. Dr. Rolf Hinz hat zu seinem 90. Geburtstag seine Autobiografie vorgelegt. Sie ist Lebens- und Zeitgeschichte.

Die ersten 250 Bücher sind verteilt. Verschenkt an die Gäste, die Anfang Januar mit Rolf Hinz den 90. Geburtstag gefeiert haben, an seine Angestellten und an die Familie. Sie hatte ihn immer wieder gedrängt: „Schreib doch mal alles auf.“ Dem Wunsch ist Hinz im vergangenen Jahr nachgekommen. Sechs Monate lang hat er am Laptop seine Lebensgeschichte niedergeschrieben, die zugleich ein Stück Zeit- und eine Firmengeschichte ist.

„Hinz neigt zu Widerspruch“ erzählt von einem 1928 geborenen Jungen, der als Scheidungskind zwischen Berlin, Dresden und Heiligenstadt aufwuchs und kurz vor dem Mauerbau die DDR hinter sich ließ, um in Herne als Kieferorthopäde eine Praxis und mehrere Firmen aufzubauen. Deren Entwicklung begleitet er heute noch mit beachtlicher Vitalität.

Gespräche mit Lektorin bringen Verschüttetes zu Tage

Die 90 sind ihm nicht anzumerken, so präzise gibt Rolf Hinz - elegant in Anzug und roter Krawatte - Auskunft über seine Erinnerungen, die, angeregt durch Autobiografien von Günter Grass und Hellmuth Karasek, zu fließen begannen. „Ich habe fast jeden Tag geschrieben, besonders im Urlaub.“ Dokumente und Fotos halfen, das Geschehen zeitlich einzuordnen. „Ich konnte ja niemanden mehr fragen.“

Viele „Stories“ habe er schon oft erzählt, sagt Hinz, die waren präsent. In Gesprächen mit Annette Pehrsson trat darüber hinaus Verschüttetes zutage. Die Lektorin begleitete die Arbeit am Buch. Auch traurige Erinnerungen kamen hoch. „Da half tiefes Durchatmen“, sagt Hinz mit einem Lächeln.

Blick in die Praxis , die Hinz in den 50er-Jahren in der DDR betrieb.
Blick in die Praxis , die Hinz in den 50er-Jahren in der DDR betrieb.

Unsentimental schildert er in seiner Autobiografie, wie er aufwuchs. Geboren in Berlin-Neukölln als Sohn eines Musikers, kam das Kind mit vier Jahren nach der Trennung der Eltern zu den Großeltern nach Heiligenstadt in Thüringen. Sein Heimweh nach der Mutter behielt Rolf für sich. „Meinen Kummer reagierte ich ab, indem ich auf der Toilette jeden Tag etwa fünf Minuten lang geweint habe - und das etwa zwei Jahre lang, ohne dass es bemerkt wurde“, schreibt Hinz. Später half ein Hund über den Schmerz hinweg.

„Pimpf“ und Luftwaffenhelfer

Seine erste „kieferorthopädische Erfahrung“ fiel in diese Zeit. Dem Jungen wuchsen zwei schiefe Zähne, die er mangels Geld für eine Behandlung selbst hartnäckig zurecht drückte. Die Zahntechnik begegnete ihm dann in Gestalt eines Dentisten aus Riga, der 1937 sein Stiefvater wurde. Bei ihm sollte er Jahre später sein Handwerk erlernen.

In der Realschule Crange: Professor Hinz berichtet 2016 als Teilnehmer des Projekts „Zeitzeugen“ Schülern der Klasse 10 von der Kriegszeit.
In der Realschule Crange: Professor Hinz berichtet 2016 als Teilnehmer des Projekts „Zeitzeugen“ Schülern der Klasse 10 von der Kriegszeit.

Doch zunächst war Krieg. Mit zehn Jahren war Rolf den „Pimpfen“ beigetreten. Er lebte jetzt beim Vater in Berlin. Dass er ein „höriger Hitlerjunge und begeisterter Führer-Anhänger“ war, verschweigt er nicht. Mit 16 Jahren wird er 1944 Luftwaffenhelfer, in Berlin-Lichterfelde und später in Merseburg. Heute versucht Hinz als „Zeitzeuge“ in Herner Schulen, die Jugend vor ähnlichen Irrtümern zu bewahren.

Damenstrümpfe geschmuggelt

Auch die Nachkriegszeit schildert der Autobiograf detailreich und mit Witz. Um etwas zu essen zu bekommen, riskiert er viel. Einmal trägt er zwölf Pfund Butter davon. Ein Schatz, der ihm „das schönste Butterbrot meines Lebens“ bescherte. In Dresden eröffnet der Stiefvater eine Dentisten-Praxis. Hinz beginnt sich für die zahntechnischen Arbeiten im Labor zu interessieren - und für Annelore, Angestellte in der Praxis. Sie wird 1955 seine erste Frau. Hinz wird Dentist, studiert später Zahnmedizin, nebenbei handelt er auf dem Schwarzen Markt. Nach Währungsreform und Berlinblockade schmuggelt er Damenstrümpfe vom Osten nach Westberlin und nimmt ungebrannten Kaffee mit zurück nach Dresden.

Erste berufliche Station nach dem Examen war eine „Betriebs-Zahnstation“ in der Niederlausitz, nach der Promotion ging es nach Doberlug-Kirchhain. „Die Kieferorthopädie machte mir zunehmend Freude“, schreibt Hinz, „weil man die erzielten Fortschritte und die Behandlungserfolge durch den Vergleich vorher und nachher vor Augen hatte.“

Sein Lebensmotto: Lieber selbst bestimmen

Schon in der DDR hat Dr. Rolf Hinz eine Leidenschaft für Autos. Ein DKW F7 ist sein erstes Schmuckstück, dem im Laufe seines Lebens immer schnittigere Modelle folgen sollen. Zwei ganze Seiten des Buches sind Fotos von Porsche, Ferrari, Lamborghini und Co. gewidmet.

Als immer mehr Freunde die DDR verlassen, schmiedet das Ehepaar Hinz auch die ersten Fluchtpläne, trotz des beginnenden Wohlstands. „In der DDR war ich einer der zehn bestverdienenden Zahnärzte.“ Kofferweise wurde Wichtiges in den Westen transportiert, sogar ein neunteiliges Chippendale-Wohnzimmer wird versandt.

Rolf Hinz als Kind      
Rolf Hinz als Kind      

Als Fluchttermin ist Pfingsten 1960 angepeilt: Hinz ist bei einer Tagung in Hamburg eingeladen. Dort trifft er einen Zahnarzt aus Wattenscheid, dessen Praxis wird seine erste Arbeitsstelle im Westen. Als er hört, dass es in Herne - ihm bisher nur bekannt durch „Westfalia Herne“ - keinen Kieferorthopäden gibt, zögert er nicht lange. Am 1. Oktober 1960 eröffnet er an der Goethestraße seine erste Praxis, „mit 18 000 Mark Schulden“.

Was im zweiten Teil folgt, ist eine unternehmerische Erfolgsgeschichte, die Hinz eigentlich nicht für die Öffentlichkeit geschrieben hat, sondern „für mich und meine Familie“. Ob sich auch Fremde für die komplette Autobiografie interessieren könnten, die in seinem Fachverlag erschienen ist, überlegt er noch.

Dritte Generation steht für das Unternehmen bereit

„Hinz neigt zu Widerspruch“: So hat einst ein Flak-Batteriechef den Luftwaffenhelfer beurteilt. „Erst später ist mir bewusst geworden, dass ich danach gelebt habe.“ Ehe man über ihn bestimme, wolle lieber er selbst bestimmen. „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Danach habe er immer gehandelt. Unkonventionelle Lösungen gesucht und gefunden, sich nicht gefügt, und „sich bekannt gemacht“, vor allem in berufspolitischen Vereinigungen. Einer Partei hat er sich nicht angeschlossen: „Dazu hatte ich keine Zeit“.

Sein Lebensthema lässt Rolf Hinz noch nicht los. Momentan beschäftigt ihn die zahnärztliche Versorgung Pflegebedürftiger, da liege noch einiges im Argen, versichert er. Die Verantwortung für Praxis und die Firmen teilt er inzwischen mit den Töchtern Kathrin und Petra und Schwiegersohn Ingo Paeske. Thomas Hinz, sein Sohn, führt eine Kieferorthopädie-Praxis in Wanne-Eickel und ist in der Haranni Academie aktiv. Mit den Enkeln steht die dritte Generation bereit. Ihnen allen wünscht er Glück bei der Fortführung des Familienimperiums - „aber bis dahin habe ich noch viel vor“, schließt sein Buch. „Der Kopf ist noch klar“, freut sich der 90-Jährige. „Alles andere lässt sich regeln.“

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Die Kieferorthopädie-Praxis, in der später auch seine zweite Ehefrau Elisabeth mitarbeitet, expandiert und zieht von der Goethe-straße zur Neustraße, später zur Straße Auf der Insel.

1967 Hinz gründet ein Fachlaboratorium und entwickelt eine ganze Reihe innovative Verfahren und Geräte. 1974 entsteht der Zahnärztliche Fachverlag, 1977 das Schulungszentrum „die PRAXIS“ (Mont-Cenis Straße). Weitere Gründungen: 1982 Dr. Hinz Dental-Vertriebsgesellschaft, 1986 erscheint erstmals „Die ZahnarztWoche“, 1987 Gründung DENTEV. Das Schulungszentrum geht in der Haranni Academie in der 2002 eingeweihten Haranni Clinic auf.

In der privaten Uni Witten-Herdecke baut Hinz die zahnmedizinische Abteilung auf und legt 1987 seine Habilitationsschrift vor. 1988 Berufung auf den Lehrstuhl für Kieferorthopädie.