Herne. . Andrea Leyk ist seit November Geschäftsführerin der Schuldnerberatung. Im Samstags-Interview spricht sie über ihre Motivation.

Wer in eine neue Position kommt, erhält eigentlich 100 Tage Zeit, um sich zu orientieren und sich einzuarbeiten. Doch diese Zeitspanne ist für Andrea Leyk gar nicht nötig. Sie hat im November die Geschäftsführung der Schuldnerberatung Herne übernommen, doch sie arbeitet bereits seit fast 22 Jahren in der Einrichtung des evangelischen Kirchenkreises. Im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann erläutert sie ihre Perspektive auf die gesellschaftliche Situation und ihre Motivation.

Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordtief gesunken, die Beschäftigung auf einem Rekordhoch, in einer Umfrage sagte eine Mehrheit der Deutschen, dass sie mit ihrer Situation zufrieden ist. Wie ist Ihre Sicht auf diese aktuelle Lage?

Leyk: Dann halte ich eine andere Umfrage entgegen, in der es heißt, dass es in Deutschland eine soziale Schieflage gibt. Dem würde ich zustimmen. Und dies gilt ganz sicher auch für Herne und selbstverständlich auch für jene Menschen, die zu uns in die Schuldnerberatung kommen. Die Menschen, die zu uns kommen sind oft arbeitslos und haben Schulden, wieder andere haben Arbeit, müssen aber eine Vollzeitstelle noch aufstocken mit Arbeitslosengeld II. Diesen Menschen wollen wir durch eine Entschuldung eine neue Perspektive eröffnen.

Was ist aus Ihrer Sicht die Ursache für diese soziale Schieflage?

Es fehlt, gerade in Herne, an passenden Arbeitsplätzen. Es gibt viele Menschen, die nicht so gut qualifiziert sind, es gibt Menschen, die ihren Arbeitsplatz durch Krankheit verloren haben. Für diese Menschen gibt es wenig adäquate Jobs.

Arbeitsagentur-Chefin Regine Schmalhorst und Oberbürgermeister Frank Dudda fordern für diese Gruppe einen sozialen Arbeitsmarkt. Wie stehen Sie zu dieser Forderung?

Ich bin auch dafür! Weil es für die Menschen wichtig ist, beschäftigt zu sein. Wir sehen einen Anstieg von psychischen Erkrankungen, was oft damit zu tun hat, dass Menschen nicht arbeiten dürfen. Und wenn es dann einen sozialen Arbeitsmarkt gäbe, wäre diesen Menschen geholfen.

Welche Rolle spielt die Hartz-IV-Gesetzgebung bei der sozialen Schieflage, die Sie kritisieren?

Viele Menschen können sich gar nicht vorstellen, was Hartz IV für Auswirkungen hat. Es gibt Menschen, die lange gearbeitet und gut verdient haben. Wenn diese Menschen nicht mehr arbeiten können, erhalten sie erst Arbeitslosengeld I, davon kann man noch leben, dann kommt aber Hartz IV. Dann muss ein Ehepaar mit 1000 Euro auskommen, davon gehen aber noch die Miete und der Strom ab. Und wenn dann noch jemand eine neue Brille braucht, müsste er sie selbst bezahlen. Die müsste aus Hartz IV erstmal zusammengespart werden. Das gab es früher nicht.

Das Jobcenter Herne. Andrea Leyk fordert eine Korrektur von Hartz IV.
Das Jobcenter Herne. Andrea Leyk fordert eine Korrektur von Hartz IV. © Ralph Bodemer

Also Hartz IV abschaffen?

Nein, aber deutlich verbessern. Denn es gibt auch Menschen, für die ein strenges Reglement ganz wichtig ist, damit sie motiviert sind, wieder zu arbeiten. Aber für jene, die unverschuldet in die Arbeitslosigkeit gerutscht sind, müsste mehr gemacht werden. Und es müsste mehr Unterschiede in der Behandlung geben.

Gibt es eine zunehmende Kälte in der Gesellschaft?

Es gibt immer noch Menschen, die ein wenig Nase rümpfend auf jene Menschen herunter blicken, denen es nicht so gut geht und glauben, dass sie selbst an ihrem Schicksal Schuld sind. Das bestreite ich vehement.

Sie sind schon seit über 20 Jahren bei der Schuldnerberatung. Ist man nach so einer langen Zeit, in der man immer wieder neue Problemfälle auf dem Tisch hat, zermürbt? Was Sie machen, ist ja Sisyphos-Arbeit.

Nein, überhaupt nicht. Ich wollte diesen Job ja machen. Ich bin nicht zufällig an ihn gekommen, sondern habe mich ganz bewusst entschieden. Das Gute an der Arbeit ist ganz einfach, dass ich jedem, der hierhin kommt, irgendwie helfen kann. Ich muss niemandem sagen, dass ich nichts für ihn tun kann.

Vorgängerin Susanne Wolf hat sich gewünscht, dass Andrea Leyk ihre Nachfolgerin wird.
Vorgängerin Susanne Wolf hat sich gewünscht, dass Andrea Leyk ihre Nachfolgerin wird. © Michael Korte

Aber die Problemfälle nehmen ja kein Ende...

...aber man tritt so einen Job an, um zu helfen.

Keine Abnutzungserscheinungen?

Nein, weil ich das gute Gefühl habe, dass die Menschen, denen wir helfen, dankbar sind. Wir bauen neue Perspektiven.

Sie sind schon so lange bei der Schuldnerberatung. War es klar, dass Sie die Nachfolge von Susanne Wolf antreten?

Frau Wolf hat sich das unbedingt gewünscht, dass ich das mache. Diesen Wunsch hat sie vor bestimmt fünf Jahren schon geäußert. Das war auch ein Grund zu sagen, dass ich die Geschäftsführung übernehme. Aber ich mache es natürlich auch, damit die Schuldnerberatung weiter so erfolgreich laufen kann. Ich weiß, wie es geht, dafür bin ich lange genug hier.

Aktionen wie die Weihnachtsgeschenke für Bedürftige, wird es auch weiter geben.
Aktionen wie die Weihnachtsgeschenke für Bedürftige, wird es auch weiter geben. © Rainer Raffalski

Wenn man neu in einer Position ist, möchte man Dinge womöglich anders angehen. Sie auch?

Frau Wolf hat hier einen sehr guten Job gemacht. Wir müssen die Dinge nicht großartig ändern. Wir werden die Arbeit kontinuierlich weiterführen, all die Aktionen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, wird es auch in Zukunft geben. Und ich werde gesellschaftliche Probleme genauso offen ansprechen wie meine Vorgängerin.

Fühlen Sie in der neuen Position auch einen neuen Schwung?

Ich habe von Geburt an ein Handicap. Aus diesem Grund habe ich viele Facetten des Lebens kennengelernt, zum Beispiel Fortbildungen für Langzeitarbeitslose und Schwerbehinderte. Für diese Menschen gab es Anfang der 90er-Jahre Vorträge. Und da hat auch einmal Frau Wolf über die Schuldnerberatung gesprochen. So bin ich auf die Arbeit der Schuldnerberatung aufmerksam geworden. Als ich 1996, nach Abschluss meines Studiums, hier angefangen habe, habe ich nie damit gerechnet, dass ich hier 22 Jahre arbeiten darf. Ich weiß, dass es in meiner Situation durchaus etwas Besonderes ist, so einen Job zu haben und dass ich mit meiner gesundheitlichen Einschränkung die ich habe, Geschäftsführerin werden durfte, gibt mir tatsächlich den Schwung, die Sache gut zu machen.

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Schuldnerberatung Herne ist ein eingetragener, gemeinnütziger Verein unter Trägerschaft des evangelischen Kirchenkreises Herne/Castrop-Rauxel.

Ziel ist es, Menschen fair, kompetent und zielgerichtet zu beraten und auf dem schwierigen und langwierigen Weg der Entschuldung zu begleiten.

Overwegstraße 31,
HER 99 49 860; Öffnungszeiten: montags, 9 bis 12 und 14 bis 19 Uhr; dienstags, 9 bis 12 und 14 bis 16 Uhr; mittwochs, 9 bis 12 und 14 - 16 Uhr; donnerstags, 9 bis 12 und 14 bis 16 Uhr; freitags, 9 bis 12 Uhr.

Andrea Leyk folgt der langjährigen Geschäftsführerin Susanne Wolf, die seit 1989 für die Schuldnerberatung verantwortlich war.

Die Hernerin (Abitur am Otto-Hanh-Gymnasium) kennt die Beratung bestens. Die 49-Jährige ist seit 1996 im Team und hat die gesamte Insolvenzberatung aufgebaut.