Herne. In der Familie Vogel-Schaf aus Herne bestimmt die seltene Krankheit HLH den Alltag. Ein Kind ist gestorben, ein weiteres schwer erkrankt.
Das weiße Brautkleid hängt seit drei Jahren ungetragen im Schrank. Jennifer Vogel hat sich damit abgefunden, denn seit Dezember 2011 gibt es Wichtigeres in ihrem Leben.
Zwei Tage vor der Hochzeit bekommt ihr Sohn Jeremy Krampfanfälle. Er muss ins Krankenhaus, die Hochzeit wird abgesagt. Zwei Jahre später stirbt Jeremy an Organversagen. Die genaue Ursache kennt damals noch keiner. Heute weiß Familie Vogel-Schaf, dass auch zwei weitere ihrer Kinder die tödliche Erbkrankheit HLH in sich tragen.
Jennifer Vogel sitzt am Küchentisch in ihrer Wohnung neben der Herner Kreuzkirche. Die sechsfache Mutter trägt eine Kette mit einem Bild von Jeremy um den Hals. Papa Marcel Schaf füttert den jüngsten Sohn Dastian mit Spekulatius. Der Einjährige lacht fröhlich. „Dastian ist ein Papa-Kind“, sagt Jennifer Vogel. „Seit er drei Monate alt ist, war ich jeden Tag bei seinem Bruder Simon im Krankenhaus. Ich war selten zuhause.“
Im Juni 2013 erkrankt ihr zweitjüngster Sohn, der damals dreijährige Simon an Darmkrebs. Der Junge steht zwischen Leben und Tod. Er bekommt einen künstlichen Darmausgang, verliert seine Haare. Doch er kämpft um sein Leben. Im Frühjahr bekommt Simon die letzte Chemotherapie. Er nimmt zu, bleibt tumorfrei, darf endlich in die Kita. Am liebsten möchte er in einen Fußballverein eintreten.
Niederschmetternde Diagnose
Im November 2014 bekommt Simon plötzlich hohes Fieber, kann nur schwankend laufen, kaum noch sprechen. Im Krankenhaus stellen die Ärzte die niederschmetternde Diagnose: HLH.
Die Ärzte testen die Familie. Das Ergebnis erschüttert Jennifer und Marcel: Auch der achtjährige Noel trägt die HLH-Erkrankung in sich. Jennifer Vogel hat die Krankheit, die nur bei Jungen ausbrechen kann, vererbt. „Ich mache mir riesige Vorwürfe“, sagt die Hernerin. In ihrer Familie habe es nur Mädchen gegeben, die Krankheit habe sich nie gezeigt.
Im Wohnzimmer ist der Weihnachtsbaum längst dekoriert. Die Feiertage wird Simon zu Hause verbringen. „Wir versuchen, es für die Kinder so schön wie möglich zu machen“, sagt Jennifer Vogel. Doch nach Feiern ist ihr nicht zumute. Rund um die Uhr wird sie sich um Simon kümmern: Aus ihrem lebendigen Jungen ist ein schwer behindertes Kind geworden. Er schläft bei den Eltern, hat nachts Hunger-Attacken.
Stammzellen sollen helfen
Seine vier Geschwister schieben Simon gerne mit einem Kinderwagen durch die Wohnung im dritten Stock. Bruder Noel beobachtet die Rückschritte des kleinen Bruders genau. Der Achtjährige hat große Angst: „Wir mussten ihm ja sagen, dass auch er krank ist“, sagt seine Mama. Die Familie wartet jetzt auf eine Stammzellenspende für Simon: die einzige Chance, die Krankheit zu heilen. Ob Simons Gehirn danach normal funktioniert, ist unklar. Vielleicht kommt ein Geschwisterkind für die Spende infrage, das erfährt die Familie erst im neuen Jahr. Nach Simon wird sich auch Noel dieser Behandlung unterziehen müssen. Es sei wahrscheinlich, dass die Krankheit auch bei ihm ausbricht.
Hohe Sterblichkeitsrate
HLH bedeutet „Hämophagozytische Lymphohistiozytose“. Die seltene Erkrankung des Abwehrsystems verursacht hohes Fieber und eine Vergrößerung von Leber und Milz. Sterblichkeitsrate: 30 bis 50 Prozent.
Wenn die Krankheit vererbt wird, ist eine Stammzellentransplantation notwendig. Das Knochenmark des Empfängers muss vor der Transplantation mit einer Chemotherapie bestrahlt werden.
Kommt kein Familienmitglied als Spender infrage, sucht die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS) nach Fremdspendern. Infos: www.dkms.de.
Vor den Kindern haben die Eltern nie geweint. Sie wollen stark sein. „Unsere Söhne müssen gesund werden“, sagt Jennifer Vogel. Erst, wenn die Kinder abends im Bett sind und Jennifer mit Marcel auf der Couch im Wohnzimmer sitzt, kommen die Ängste: „Wir könnten es nicht verkraften, noch ein Kind zu verlieren!“
An guten Tagen denkt Jennifer Vogel an ihre Hochzeit. Gerne würde sie ihr Brautkleid aus dem Schrank holen und ihrem Marcel das Ja-Wort geben. Ihr größter Wunsch: „ein ganz normales Leben führen.“
Erdgeschosswohnung wird dringend gesucht
Wenn Simon über die Feiertage oder ab und zu fürs Wochenende nach Hause kommt, dann muss ihn sein Papa die steilen Treppen hinauf bis in die Wohnung im dritten Stock tragen. „Durch die vielen Medikamente hat Simon viel zugenommen. Das Tragen fällt uns nicht mehr leicht“, sagt Jennifer Vogel. In der Wohnung kommt die Familie zurecht: Ein geschenkter Kinderwagen macht die Fortbewegung möglich.
Die meiste Zeit ist Simon im Krankenhaus. Jeden Tag fährt Jennifer Vogel dann zu ihrem Sohn nach Datteln. Knapp zwei Stunden sitzt sie in Bus und Bahn – die 30-Jährige hat keinen Führerschein und auch Marcel Schaf besitzt kein Auto. Manchmal wird sie von netten Bekannten mit dem Auto mitgenommen. „Das ist dann immer eine große Erleichterung!“
Die Familie sucht jetzt dringend eine Erdgeschosswohnung in Herne. „Wir wissen ja nicht, ob Simon jemals wieder alleine zurecht kommen wird“, sagt die Hernerin. „140 Quadratmeter müssten es schon sein.“ „Wir können im Wohnzimmer schlafen“, sagt Marcel Schaf. „Das kennen wir gar nicht anders.“ Wichtig sei nur, dass sie bald etwas Passendes fänden. „Lange funktioniert das hier nämlich nicht mehr.“