Herne. Nach einer Operation an den Armen ist der kleinwüchsige Tim für Monate auf Hilfe angewiesen. Die hat ihm die Stadt nur für den Unterricht bewilligt.
Mit seinen 131 Zentimetern ist Tim ein Stück kleiner als seine Mitschüler in der vierten Klasse. Das schränkt den Zehnjährigen normalerweise nicht ein. Momentan darf Tim allerdings nichts tragen. Der kleinwüchsige Junge ist im Oktober an beiden Armen operiert worden. Jetzt sollen durch beständiges Nachdrehen an so genannten Fixateuren kostbare Zentimenter Länge gewonnen werden. Für diese Zeit braucht Tim Unterstützung in der Schule durch einen Integrationshelfer. Er besucht die 4. Klasse der Horstschule in Holsterhausen. Deshalb begleitet ihn zur Zeit Marvin Preuß in den Unterricht. Marvin ist ein so genannter FSJ-ler, das heißt, er absolviert ein freiwilliges soziales Jahr. Doch nach Unterrichtsende, wenn er Tim die paar Schritte über den Hof zum Offenen Ganztag (OGS) gebracht hat, muss sich Marvin verabschieden. Die Stadt hat für den Nachmittag keinen Integrationshelfer bewilligt, und das trotz dringender Empfehlung der Schule.
„Wir halten es für Tim für besonders wichtig, dass er nicht aufgrund seiner derzeitigen gesundheitlichen Situation aus seinem gewohnten Umfeld gerissen wird“, haben die Schulleiterin, die Klassenlehrerin und die Leiterin des Offenen Ganztags in einer gemeinsamen Stellungnahme an die Stadt Herne geschrieben. „Die Betreuung von Tim in der OGS kann ohne einen Integrationshelfer von unserer Seite nicht gewährleistet werden.“
Familie kann nicht selbst zahlen
Wenn Marvin Tim die Schultasche herübergetragen und ihn auf dem Weg vor Rempeleien geschützt hat, müsste er ihm eigentlich im „Ganztag“ weiter zur Seite stehen. Das übernehmen jetzt OGS-Leiterin Linda Jaskowiak und ihre Kolleginnen - weil sie Tim seit vier Jahren kennen und es sie empört, dass er sonst nicht kommen könnte, solange er die Fixateure trägt, was vermutlich bis zum Ende des Schuljahres der Fall sein wird. 111 Kinder hat das OGS-Team zu betreuen, trotzdem rücken die Mitarbeiterinnen Tim den Tritt ans Waschbecken, damit er sich die Hände waschen kann. Auch soll er nichts tragen, so nehmen sie ihm den Teller mit dem Mittagessen ab, für das sich die Kinder selbst anstellen. Und so addieren sich im Verlauf des Nachmittags viele Handgriffe, zumal die Kinder für die Hausaufgabenhilfe wieder das Gebäude wechseln müssen. „Wenn Tim nicht so gut mitspielen würde, würde das gar nicht funktionieren“, sagt Linda Jaskowiak.
Dann müsste seine berufstätige Mutter ihren Job bei Benkert aufgeben, obwohl sie die Grundschule gerade wegen der OGS ausgewählt hat. Sie hat erst um 14 Uhr Feierabend. Sandra Grzella kann die Entscheidung des städtischen Fachbereichs Soziales nicht nachvollziehen, zumal Tim schon einmal ein Integrationshelfer für die OGS bewilligt worden war, in der ersten Klasse, als er sich einer Beinverlängerung unterzog. Jetzt sei die Bewilligung einkommensabhängig, erfuhren Tims Eltern. So füllten sie die verlangten Formulare aus. Sogar die Lebensversicherung hatte Tims Vater Reiner Pawelski mitgebracht. Als die Sachbearbeiterin einen Blick darauf geworfen und ihnen mitgeteilt habe, dass sie diese dann wohl kündigen müssten, war für das Paar die Grenze erreicht. Das wollten sie nicht. Selbst zahlen können sie die Betreuung bei 2200 Euro netto Familieneinkommen nicht. „Da kämen 500 bis 600 Euro im Monat zusammen.“ Auch wenn Tim nun dank des Einsatzes der OGS-Mitarbeiterinnen weiter in die Nachmittagsbetreuung geht, bleibt bei seiner Mutter doch eine bittere Erkenntnis zurück. „Es wird immer von Inklusion gesprochen, aber wir merken nichts davon.“
Andere Städte sind „großzügiger“
Als Nordrhein-Westfalens Landesbehindertenbeauftragter ist Norbert Killewald auf der Seite der Familie Grzella. Für ihn ist die vermögens- und einkommensabhängige Hilfe eine klare „Diskriminierung“. „Wir kämpfen darum, dass sie wegfällt“, sagt Killewald. Die Betroffenen müssten sich „nackig ausziehen“, kritisiert er. Bezahlen müssen den Integrationshelfer für die OGS auch Bezieher kleinerer Einkommen, wenn sie über einer bestimmten Grenze liegen (siehe Kasten) oder Vermögen mitbringen.
Juristisch gesehen könne die Rechtslage wohl so gedeutet werden, wie die Stadt Herne es tue, sagt der Behindertenbeauftragte Killewald. Andere Städte sähen die Sache gleichwohl „großzügiger“. Dort werde die Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag als Schulbildung gewertet, was für die Finanzierung ausschlaggebend ist.
Gewohnter Tagesablauf soll bleiben
Unterschiedliche Ansprüche
Die Kosten eines Integrationshelfers während des Schulbesuchs werden einkommens- und vermögensunabhängig gewährt, erklärt die Stadt Herne.
Bei dem Einsatz des Integrationshelfers während der Nachmittagsbetreuung handele es sich dagegen um eine „Hilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“, deren Gewährung einkommens- und vermögensabhängig sei. Die Vermögensfreigrenze liege in diesem Fall bei 3470 Euro, die Einkommensgrenze bei 1330 Euro plus Kosten für die Unterkunft.
Das ist z.B auch bei den Frasens der Fall, die Sandra Grzella aus dem Verein kleinwüchsiger Menschen kennt. „Wir haben für unseren Sohn Luca die OGS vom Kreissozialamt Bergisch-Gladbach immer genehmigt bekommen“, sagt Anja Frasen aus Rösrath. Der ebenfalls zehnjährige Luca ist vier Mal operiert worden, davon zwei Mal in der Grundschulzeit. Dass ein Kind in der Zeit danach seinen gewohnten Tagesablauf beibehält, findet auch Anja Frasen selbstverständlich.
Um Benachteiligungen wie der geschilderten politisch zu begegnen, brauche man das „Bundesteilhabegesetz“, sagt Killewald. Mit dem Gesetz, an dem zurzeit gearbeitet wird, soll die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen verbessert und damit das deutsche Recht im Licht der UN-Behindertenrechtskonvention weiterentwickelt werden.