Hattingen. Hattingen, 5. Juni 1993: Das Haus einer türkischen Familie brennt aus. Was ist passiert? Ein rechtsradikaler Anschlag? War es die Familie selbst?

Schockmoment auf dem Schulhof des Gymnasiums Waldstraße: Wir, die Abiturienten des Jahrgangs 1993, sollen gleich unsere Noten bekommen, doch ein ganz anderes Thema steht an diesem Morgen, kurz vor acht, im Mittelpunkt: „Schon gehört, wir hatten auch hier vergangene Nacht einen rechtsradikalen Anschlag.“

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Tatsächlich? Hattingen in einer Reihe mit Rostock, Mölln und Solingen? Nur knapp eine Woche nach dem Drama um die Familie Genç im Bergischen Land nun eines vor der eigenen Haustür rund um die Familie Ü.? Spekulationen schießen ins Feld, die Stadtgesellschaft ist angespannt. Das darf doch nicht wahr sein! Ist es doch?! Während­ wir Schüler unseren letzten Tag in der Penne mit klaren Verhältnissen verlassen, bleibt der Vorfall an der Unionstraße ungeklärt. Der Versuch einer Rekonstruktion.

Die Ermittler haben sofort die Arbeit aufgenommen, um die Brandursache festzustellen. Diese ist bis heute aber ungeklärt.
Die Ermittler haben sofort die Arbeit aufgenommen, um die Brandursache festzustellen. Diese ist bis heute aber ungeklärt. © WAZ | Udo Kreikenbohm

Als Familienvater Yasar Ü. an diesem Samstagmorgen, 5. Juni 1993, von seiner Nachtschicht nach Hause kommt, ist nichts mehr, wie es noch am Abend gewesen ist: Seine Frau – auch sie heißt Yasar – berichtet ihm und der Polizei, dass der gerade einmal drei Jahre alte Sohn Osman (3) den Brandgeruch bemerkt hat, dass er seine Mutter geweckt und damit der Familie das Leben gerettet hat. Sechs Familienmitglieder rennen raus, alle sind unverletzt. Die Mutter gibt an, dass sie im Treppenhaus einen Mann ge­sehen habe, den sie der Polizei beschreibt. Das Haus ist unbewohnbar.

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Es werden Scherben des Badezimmer-Fensters gefunden, die auf der unteren Seite frei von Ruß sind – ein Indiz dafür, dass das Fenster vorher eingeschlagen wurde? Zudem sollen drei Jugend­liche, von denen einer eine Skinhead-Frisur mit Runenzeichen haben soll, am Tatort gewesen sein. Den beschreibt ein 26-jähriger Zeuge noch am Tat-Tag, der nicht zur Familie gehört.

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Der Schock sitzt tief. Bei der Familie, in der türkischen Gemeinschaft und der gesamten Hattinger Gesellschaft. „Wir könnten alle weinen“, sagt Klaus Sager, Ausländerbeauftragter der Stadt und Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Ausländerarbeit (VFA).

NRW-Innenminister Herbert Schnoor im Gespräch mit Nadir Sevis. Mitte: Klaus Sager, Ausländerbeauftragter der Stadt und Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Ausländerarbeit (VFA).
NRW-Innenminister Herbert Schnoor im Gespräch mit Nadir Sevis. Mitte: Klaus Sager, Ausländerbeauftragter der Stadt und Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Ausländerarbeit (VFA). © WAZ | Udo Kreikenbohm

Doch schon bald werden Zweifel laut, Polizei und Staatsanwaltschaft hinterfragen den Tathergang mehr und mehr. Denn der Brand an der Unionstraße weicht von den rechtsextremen Anschlägen in Rostock, Mölln oder Solingen­ ab, sagen sie. Es gibt beispielsweise keinen Brandsatz und keinen Brandbeschleuniger. Zudem werden mehrere Brandherde im Haus gefunden.

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Und so gerät plötzlich die Mutter selbst in den Blickpunkt der Ermittlungen. Sie habe zurück in die Türkei gewollt, ihr Mann indes nicht. Die Brandstiftung soll jetzt ein Versuch gewesen sein, Tatsachen zu schaffen: Deutschland sei unsicher. Andere meinen, sie wollte Spendengelder erschleichen. Freunde und Vertraute, aber auch Beobachter der Ermittlungen glauben das nicht.

Spekulationen!? Fakten?! Die Ermittlungen stocken, sie bringen keine eindeutige Hinweislage.

Hattingen steht auf: Impression der Demonstration mit rund 2000 Teilnehmenden am 6. Juni 1993.
Hattingen steht auf: Impression der Demonstration mit rund 2000 Teilnehmenden am 6. Juni 1993. © WAZ | Udo Kreikenbohm

Im Jahr 1996 wird Yasar Ü. schließlich von der Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht Essen angeklagt. Nach harten Verhandlungstagen wird die Mutter aber freigesprochen – ein Erfolg für Familie und Vertei­digung, die Freude ist groß. Wer den Brand gelegt hat, ist bis heute nicht ermittelt worden.

Familie verzweifelt – Widerstand gegen Rechts

Familie Ü. muss viel ertragen: Nach dem Brand wird sie in ihrer vorläufigen Unterkunft in Welper durch Klopfen an der Tür schikaniert und die Kinder müssen sich in der Schule Vorwürfe gegen die eigene Mutter anhören. Daraufhin ziehen sie nach Duisburg, doch auch hier bleibt es unruhig.

Ende der 1990er-Jahre geht es für Familie Ü. in die Türkei. Auch hier wird sie nicht glücklich, weil sich die Vorwürfe herumgesprochen haben. „Unser ganzes Leben ist kaputt “, sagt der Vater in einem WAZ-Gespräch.

In Hattingen formierte sich schnell Widerstand gegen Rechts: Ausländerbeauftragter Klaus Sager und Bürgermeister Günter Wüllner versuchen, am Tag des Feuers die angespannte Situation zu beruhigen. Ausschreitungen werden befürchtet, vor allem bei der Demo, bei der am nächsten Tag rund 2000 Menschen dabei sind. Flankiert von einem riesigen Polizeiaufgebot bleibt alles friedlich.

Fragen bleiben offen, was in der Nacht des 5. Juni 1993 passiert ist: Was ist etwa mit den Scherben des Badezimmer-Fensters? Was ist mit dem Mann im Treppenhaus? Was ist mit den drei Jugend­lichen am Tatort, von denen einer eine Skinhead-Frisur mit Runenzeichen haben soll?

Die Antworten wird es wohl nie geben.