Hattingen. Im Seniorenheim St. Josef in Hattingen sind 23 Bewohner gestorben. Leiterin Elisabeth Baier über die Wochen der Pflege im Zeichen des Schocks.
Die Tragödie, sie beginnt am Nikolaustag 2020. Da wird der erste Bewohner des Altenheims St. Josef an der Brandtstraße positiv auf Corona getestet. „Ich werde den Tag nie vergessen“, erinnert sich Elisabeth Baier. Die 59-Jährige leitet die Einrichtung, eines der sechs Seniorenheime der Theresia-Albers-Stiftung, seit vier Jahren. Und ahnt, dass schwere Zeiten bevorstehen.
„Zunächst einmal war es ja nur viel Arbeit, die da so plötzlich auf uns zukam“, sagt die gebürtige Rumänin. Und lobt die 170 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich an dem Standort um 108 Bewohnerinne und Bewohner kümmern. „Alles lief sehr professionell ab. Trotz der Angst, was da jetzt kommen würde. Es war ja noch niemand geimpft. Und kein Arzt konnte uns helfen.“
Der erste Todesfall: ein Schock
Wo fangen wir an? Was machen wir richtig, was falsch? Das seien die Fragen gewesen Anfang Dezember 2020. St. Josef war das erste Haus der Stiftung, das gegen Corona ankämpfen musste. Masken, Schutzkleidung, Logistik – das ist die eine Seite der Pandemie.
Die Menschen sind die andere. „Viele Bewohner haben nicht verstanden, warum sie in ihren Zimmern bleiben müssen, die anderen nicht mehr sehen dürfen. Und warum auch wir vorsichtiger im Umgang sind“, schildert Baier die Lage. „Wir konnten ja niemanden mehr in den Arm nehmen. Einige haben gefragt: Warum hast Du mich nicht mehr lieb?“ Trotz der Schutzkleidung sei es schwierig gewesen, die für die Pflege so wichtige menschliche Nähe herzustellen.
Theresia-Albers-Stiftung betreut 600 Menschen
Die Theresia-Albers-Stiftung wurde im Jahr 1996 von den Schwestern zum Zeugnis der Liebe Christi aus der Verpflichtung heraus gegründet, das Lebenswerk ihrer Ordensgründerin dauerhaft und unabhängig für die Zukunft zu sichern. Sie hat ihren Sitz an der Hackstückstraße in Bredenscheid.Unter dem Dach der Theresia-Albers-Stiftung werden heute Einrichtungen der Alten-, Behinderten- und Integrationshilfen geführt. Mehr als 600 Menschen finden Hilfe und Unterstützung in den Einrichtungen in Essen, Bochum und dem Ennepe-Ruhr-Kreis. Die Stiftung betreibt mehrere voll- und teilstationäre Altenheime, zwei Kindertagesstätten sowie eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung und chronisch psychischen Erkrankungen.
Dann: der erste Todesfall. „Ein Schock“, sagt die Heimleiterin. „Ein Mensch, ohne Symptome, einfach so gestorben.“
Und es kommt schlimmer. Viel schlimmer. 23 Seniorinnen und Senioren des Altenheims St. Josef sterben in den ersten Wochen des Jahres 2021 im Zusammenhang mit dem Coronavirus. So viele wie in keiner anderen Einrichtung der Stiftung.
27 Mal Abschied nehmen
Vier weitere Bewohner sind in der Zeit ohne Bezug zum Virus verstorben“, erinnert sich Elisabeth Baier. 27 Mal Abschied nehmen. 27 Mal mit Angehörigen sprechen. 27 Mal ein Zimmer leerräumen. „Da ist die Belastungsgrenze erreicht“, ordnet die Leiterin die Lage für die Belegschaft ein. Viele Pflegekräfte sind in Quarantäne gewesen. Eine Mitarbeiterin an Corona gestorben. „Und dennoch: Es ging weiter“, sagt Baier. „Man verdrängt eben vieles.“
Manchmal sogar die Toten. „Wenn es darum geht, den Lebenden so gut wie möglich zu helfen, bleibt für Trauer oft keine Zeit“, sagt Elisabeth Baier. Die Heimleiterin ist stolz auf die Art und Weise, in der sie und ihr Team die ihnen anvertrauten Seniorinnen und Senioren weiter betreut haben.
Niemand sei fixiert worden. Niemand sei vereinsamt. Insgesamt seien die Beziehungen zwischen Bewohnern und Pflegern sogar noch tiefer geworden.
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Im März 2021 ist die Zeit des Schreckens vorbei. Es wird geimpft. Die Quarantäne ist aufgehoben. Die Zimmer können wieder belegt werden. Und die neuen Bewohnerinnen und Bewohner kommen. „Da war kein Misstrauen wegen der 23 Toten“, erinnert sich Elisabeth Baier. Und macht das auch daran fest, dass die Einrichtung samt Personal wohl einen guten Ruf haben müsse.
Mit Respekt leben
Nach ihrem Herzenswunsch für das Jahr 2022 muss man Elisabeth Baier nicht lange fragen. „Dass alle gesund bleiben“, sagt sie. „Dass wir alle frei leben können und trotzdem gut aufeinander aufpassen.“
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Angst um ihr eigenes Leben habe sie nicht einen Moment gehabt, sagt die Heimleiterin. Wohl aber neu justiert, was für sie wichtig ist: „Mit Respekt leben. Prioritäten setzen.“