WAZ-Redakteurin Liliane Zuuring hat zwei Kinder ohne und ein Kind mit Trisomie 21. Am Welt-Down-Syndrom-Tag gibt sie Einblicke ins Familienleben.
Der heutige Mittwoch ist der Welt-Down-Syndrom-Tag. Den ich wahrnehme, seit ich ein Kind mit Down-Syndrom habe.
Hätte ich in der Schwangerschaft erfahren, dass mein Sohn mit Trisomie 21, einem Herzfehler und einer Darmfehlbildung auf die Welt kommt, dazu auf einem Ohr schwerhörig – ich hätte die Schwangerschaft wohl abbrechen lassen. Weil ich mich überfordert gefühlt hätte, weil ich nicht gewusst hätte: Wie soll das laufen, wenn ich eineinhalb Jahre ständig in Krankenhäusern bin, nicht mal weiß, ob das Kind es schafft? Wie kann ich da noch dem älteren Bruder gerecht werden?
Wenn Rico bockt, dann bockt er
Aber eine Nackenfaltenmessung hatte keine Auffälligkeiten ergeben, darum entschied ich mich gegen eine Fruchtwasseruntersuchung – obwohl ich 39 Jahre alt wurde. Und so kam Rico also zur Welt. Am 12. November 2009. Zum Glück. Mit Trisomie 21. Aus heutiger Sicht kein Weltuntergang. Damals aber dachte ich, ich könnte nie wieder unbeschwert lachen. So viele Fragen wie: Was wird, wenn wir mal nicht mehr sind? Dazu erzählten die Ärzte von Ricos erhöhtem Risiko, an Leukämie zu erkranken. Bei der Geburt seines älteren Bruders Fabio (10) war kein Arzt auf die Idee gekommen, mir etwas von Erkrankungswahrscheinlichkeiten zu erzählen. Meine Mutter machte mir Mut: „Was aus Kindern ohne Behinderung wird, weißt Du auch nicht.“
Heute ist Rico acht Jahre alt – und hat noch einen zwei Jahre jüngeren Bruder. Der war schnell sehr achtsam, denn Rico bindet Aufmerksamkeit. Wenn er bockt, bockt er. Will er lieb sein, ist das auf unvorstellbar anrührende Weise. Die Stimmung schwankt gern ohne ersichtlichen Grund von einer Sekunde auf die andere. Ruhig kann er zusehen, wie Bruder Lelio (6) eine Playmobil-Landschaft baut – um sie lachend mit einem Fußtritt niederzureißen. Aber wehe, Lelio wagt das umgekehrt. Oder jemand wendet sich gegen seine Brüder. Dann stellt er sich davor.
Eltern werden zur Geduld gezwungen
Rico ist unbestechlich und uneinsichtig. Anstrengend. Immer in Bewegung. Chaotisch. Ordentlich. Je nachdem, was er gerade will. Er trifft Entscheidungen spontan. Und wenn er sich selbst witzig findet, wie er ein Kissen in der Toilette versenkt, dann ist er zum Heulen beleidigt, wenn andere meckern. Was dann oft lustig ist, wenn er theatralisch schmollt.
Ich bin ungeduldig. Rico zwingt mich zur Geduld. Will ich ihm die Fußnägel schneiden, müssen ihn zwei Helfer erst niederringen, damit ich die Schere ansetzen kann. Seine Reaktion: „Hau ab! Du Mama Aa“, schreit er dann aus Leibeskräften. Ich nehme es nicht persönlich. Denn ich weiß: Sekunden nach dem Nägelschneiden ist die Wut verflogen und er umarmt und küsst mich mit einer Herzlichkeit, die mich spüren lässt, dass er mich bedingungslos liebt. Sanft streichelt er meinen Arm und säuselt leise: „Meine Mama.“
Worte, die Rico emotional ansprechen, lernt er gleich. Was ihm an Sprache fehlt, ersetzt er durch Sensibilität. Hat sich jemand verletzt, eilt er gleich herbei und pustet. Will die Uroma nicht trinken, dann ist er zur Stelle – und flößt ihr doch was ein. Er hilft ihr in den Rollstuhl, trägt Oma die Handtasche. Er kann so lieb sein. Wenn er will. Leben nach dem Lustprinzip. Die Welt, sie soll sich um ihn drehen. Wozu an der roten Ampel stehen bleiben?
Natürlich fahren wir zu vielen Therapien. Aber die anderen Jungs gehen ja auch zum Sport, zum Schwimmen. Jeder wird eben anders gefördert. Klar ist aber: Ohne die Unterstützung meiner Eltern geht es nicht. Sie stehen immer parat, Tag für Tag, richten ihren Alltag nach den Enkeln aus. Dadurch kommen auch die anderen beiden Jungs nicht zu kurz. Die sind übrigens oft besser als jede Therapie für Rico. Dabei schüttelten alle damals den Kopf, als ich zum dritten Mal schwanger war. Ich habe dann übrigens eine Mutterkuchen-Untersuchung machen lassen. Weil ich es dieses Mal wissen wollte.
Rico geht zur Förderschule
Als Rico in den evangelischen Kindergarten ging, war es für mich beruhigend zu wissen, dass er erst mit seinem großen, dann mit seinem kleinen Bruder die Gruppe besuchte. Unvergessen wie Fabio im Kindergartenalter entsetzt sagte: „Die haben gesagt, Rico ist krank. Ist er doch gar nicht. Er lernt doch nur langsamer.“
Inzwischen geht Rico zur Förderschule, kann dort Sachen, die er daheim nie machen würde – und fühlt sich sauwohl. Weil er im Kindergarten eben doch merkte: Ich kann nicht mithalten. Das machte ihn oft wütend. Jetzt ist er mittendrin. Inklusion kam nicht in Frage: Weil er den Clown gegeben, weniger Unterstützung gehabt hätte.
Vertrauen in die Zukunft
Das Down-Syndrom empfinde ich heute als „Luxus-Einschränkung“, wenn man so will – und ich habe Respekt vor Eltern, die mehrfach behinderte Kinder oder Kinder mit lebensverkürzenden Einschränkungen haben. Ich möchte Ricos unbändige Begeisterungsfähigkeit, seine kompromisslose Ehrlichkeit nicht missen – egal wie sehr er mich an Grenzen bringt. Oder wie mein Vater oft treffend sagt: „Wenn wir ihn nicht hätten, müssten wir ihn erfinden.“ Wir können Rico – wenn er will – viel beibringen, aber auch viel von ihm lernen: Selbstbewusstsein, soziale Kompetenz, Vertrauen in die Zukunft, Unvoreingenommenheit – und das Leben einfach so zu anzunehmen, wie es ist. Letzteres habe ich von ihm gelernt.
Ärzte und Beratungsstellen bieten Information und Hilfe
Das Down-Syndrom wird auch Trisomie 21 genannt. Ursache ist eine Veränderung am Erbgut. Hier liegt das 21. Chromosomenpaar nicht doppelt, sondern dreifach vor.
Der Kinderarzt war es, der uns damals auf die Westdeutsche Down-Syndrom-Ambulanz ganz in der Nähe aufmerksam machte, die im Jahr 2007 eröffnet hatte: im Klinikum Niederberg in Velbert. Sie ist eine von zehn Down-Syndrom-Ambulanzen in Deutschland. Hier sehen Ärzte und Therapeuten auf das Kind, erstellen einen Förderplan, geben Tipps, Eltern beraten zudem Eltern. In Velbert sitzt auch der Verein Impuls 21, der Seminare und Kurse bietet.
Wie Menschen mit Down-Syndrom denken und leben, das erforschen Menschen mit und ohne Down-Syndrom in dem Projekt Touchdown 21. Das Magazin „Ohrenkuss . . . da rein, da raus“ ist gemacht von Menschen mit Trisomie 21. Mit faszinierenden Einblicken. In meiner Küche hängt ein Spruch von Julia Bertmann: „Jeden Tag gucke ich aus dem Fenster. Es ist verschieden unwichtig.“ Dem ist doch nichts hinzuzufügen.