Gladbeck. .
Der 25-jährige David Remmel lebt seit fast sechs Jahren in Tokio. Seinen Eltern zuliebe kam er nach Beben und Reaktorkatastrophe für kurze Zeit nach Gladbeck. Am Sonntag flog er zurück - weil Japan sein Lebensmittelpunkt ist.
Als die Erde in Japan bebte, saß David Remmel in einem Café in Tokio und gab einer jungen Japanerin Deutschunterricht. Der 25-jährige Gladbecker lebt seit 2005 in der japanischen Hauptstadt – und er will bleiben. Genauer gesagt: Er ist am Sonntag wieder hin geflogen. Nach der Katastrophe am 11. März und den folgenden Schreckensmeldungen aus dem Atomkraftwerk in Fukushima hatten seine Eltern, voller Sorge um den Sohn am anderen Ende der Welt, ein Flugticket für ihn gebucht und ihn überredet, nach Hause zu kommen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, für immer. Aber David hat sich anders entschieden: „Japan ist mein Lebensmittelpunkt. Dort leben meine Freunde, dort arbeite ich. Ich gehe zurück.“
Ein bisschen gegrübelt hat er vor diesem Entschluss schon, gibt der 25-Jährige zu, denn das Beben, das Chaos danach und die immer neuen Hiobsbotschaften aus dem Reaktor sind auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen. „Ich hatte Panik“, sagt er. Nicht sofort. Die Erde bebt halt öfter in Japan. Aber dieses Mal, das habe jeder in dem Café nach kürzester Zeit gespürt, dieses Mal war alles anders: „Es hörte einfach nicht auf. In den Wänden bildeten sich Risse. Wir saßen im Untergeschoss eines zwölfstöckigen Kaufhauses, und von oben hörten wir Geräusche als fiele das Gebäude schon in sich zusammen.“ Da war die Panik da.
„Das war wirklich beängstigend“
Mit seiner Schülerin flüchtete David durch einen Notausgang ins Freie. Eine riesige Menschenmenge hatte sich da schon in den gegenüberliegenden Park gerettet. Entsetzt beobachteten alle, wie ein starkes Nachbeben die nahen Hochhäuser ins Wanken brachte. „Das war wirklich beängstigend.“
Was folgte, war Chaos: Kein Bus, kein Zug fuhr mehr. Menschen irrten ziellos durch die Straßen. Drei bis vier Stunden hätte Davids Heimweg zu Fuß gedauert. „Ich kam mir allein doch sehr hilflos vor“, erzählt der 25-Jährige. Er hatte Glück: Im Menschengetümmel entdeckte er einen Freund: „Er ist groß und trägt immer eine rote Mütze. Die habe ich plötzlich gesehen.“ Und noch etwas sah er. Über einen Fernsehschirm flimmerten die entsetzlichen Bilder aus der Region, die vom Beben und Tsunami am stärksten betroffen war. „Da habe ich, Stunden nach der Katastrophe, erst das wahre Ausmaß erkannt.“
In überfüllten Zügen, die abends endlich wieder fuhren, mit einem Taxi und zu Fuß kamen David und zwei japanische Freunde um 2.30 Uhr in der Nacht, zwölf Stunden nach dem Beben, endlich in seiner kleinen Wohnung an. Ein Fernsehgerät besitzt David dort nicht, und deshalb erfuhr er erst von seinen Eltern am Telefon vom Reaktorunglück. „Anfangs hat mich das nicht ganz so beunruhigt. Fukushima ist ja doch relativ weit weg von Tokio. Aber dann bekam ich ständig Anrufe von Freunden, die sich erkundigten, wie es mir geht, und mein Vater hat mich fast pausenlos über die neuesten Entwicklungen informiert. In den Supermärkten waren die Regale leer, weil die Menschen Hamsterkäufe gemacht hatten. Da hab ich es doch mit der Angst zu tun bekommen.“ Und trotzdem: Hätten seine Eltern ihn mit dem Ticket für den Heimflug nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, wäre er in Japan geblieben.
Ausbildung zum Manga-Zeichner an der Fachhochschule in Tokio
Dort lebt er jetzt schon fast sechs Jahre und arbeitet als Manga-Zeichner. Die japanischen Comics haben ihn schon immer begeistert, und Japan übte eine ungeheure Faszination auf ihn aus. Deshalb begann David Remmel schon mit 16, die japanische Sprache zu lernen – mit Ausnahme eines VHS-Kurses ganz eigenständig übers Internet. „Jeden Tag drei Stunden, nach den Hausaufgaben.“ Als er sich zwei Tage nach dem Abiball, mit einem einjährigen Visum „Working holiday“ in der Tasche, in den Flieger Richtung Japan setzte, war ihm, und wohl auch seinen Eltern, schon klar: Er würde (länger) bleiben.
Inzwischen hat David Remmel seine Ausbildung zum Manga-Zeichner an der Fachhochschule in Tokio abgeschlossen und schon zwei Preise gewonnen. Und er hat seine ersten festen Aufträge für eine monatlich erscheinende Manga-Zeitschrift. Er könnte auch von Deutschland aus für den japanischen Verlag arbeiten, hat man ihm versichert, aber: „Hauptberuflich Mangas zeichnen kann man eigentlich nur dort. Außerdem empfinde ich mittlerweile Japan als mein Zuhause, ich denke, ja, ich träume sogar japanisch. Als ich jetzt, in dieser schlimmen Situation, nach Deutschland geflogen bin, hatte ich das Gefühl, ich ließe meine Freunde im Stich.“
Natürlich kehrte er dieses Mal nicht ganz so unbeschwert zurück wie nach seinem letzten Besuch in Gladbeck vor zwei Jahren, aber er kann nicht anders, sagt er: „Es zieht mich nach Japan.“ „Es fällt mir nie leicht, wenn David wieder geht. Dieses Mal ist es aber besonders schlimm.“ Anna Remmel macht sich große Sorgen um ihren Sohn, aber sie akzeptiert seine Entscheidung, versteht sie sogar: „Er ist hier schon fast entwurzelt, hat in Japan seine Freunde, seine Wohnung, seine Arbeit.“ Natürlich wird sie jede Meldung aus Japan verfolgen – und zur Not wieder ein Heimflug-Ticket buchen.