Gladbeck. Olga Farnsworth fragte: Was ist aus ihrem Urgroßvater geworden? Das Wissen um sein tragisches Leben und seinen Tod ist für sie wie ein Wunder.
Wenn an den Weihnachten Menschen mit ihren Lieben zusammensitzen, hat die Familie von Olga Farnsworth im fernen US-Staat Texas an Heiligabend einen ganz besonderen Mann wieder bei sich, wenn auch nur in Gedanken. Aber in dem Wissen, was mit ihm geschehen ist. Lange Zeit hat die 39-Jährige ihn vermisst – und jetzt erst gefunden. Für Olga Farnsworth ist es ein kleines Wunder und ein großes Geschenk. Die Spur des früheren Soldaten führt nach Gladbeck. Dies ist die Geschichte von Michail Filimonenko.
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Das Kapitel, das Olga Farnsworth aufschlägt, nimmt seinen Anfang eines Tages im Frühjahr 2023 bei einem Familientreffen. Wir kennen das ja: Es wird viel gesprochen, über dieses und jenes, über die liebe Verwandtschaft. Die Familienmitglieder tauschen Neuigkeiten aus, schwelgen in Erinnerungen: Was wohl aus den Angehörigen geworden ist? Erst recht ist das Interesse groß, wenn sich Verwandte längere Zeit nicht gesehen haben. Wie eben bei Olga Farnsworth, die aus dem Norden Kasachstans in die Vereinigten Staaten auswanderte.
Auf einem Familientreffen kam die Frage auf: Was ist aus ist Mihail Filimonenko geworden?
Die Sprache beim Treffen in ihrem Geburtsland kam auf Mihail Filimonenko – den Urgroßvater. Bekannt war Olga Farnsworth lediglich, dass er als russischer Soldat an der Front war. Was genau mit ihm geschehen ist und wo er unter welchen Bedingungen starb: drei Fragezeichen. Doch wie es das Schicksal wollte, musste Olga Farnsworth nicht allein aus der Ferne auf Spurensuche gehen.
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Eine Schlüsselrolle spielt Daria Eipert. Es zeigt sich, wie klein die Welt dank sozialer Medien geworden ist, wie mühelos Ländergrenzen, sogar Kontinente und Sprachbarrieren überwunden werden können – und was mit vereinten Kräften erreicht werden kann. Freundin Olga kommunizierte auf Russisch und Englisch in Ermangelung ausreichender Deutschkenntnisse. Darüber verfügt jedoch Daria Eipert.
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Sie berichtet der WAZ: „Olga und ich haben uns auf Instagram kennengelernt. Sie stammt wie ich aus Petropawlowsk in Nord-Kasachstan. Sie hat mir irgendwann von dem Treffen mit ihren Verwandten erzählt.“ Die Freundin sei erst einmal sehr traurig gewesen, weil sie nicht wusste, wo ihr Urgroßvater – Jahrgang 1904 – begraben ist.
Auch Daria Eipert hat, wie ihre Freundin, ihre Geburtsstadt verlassen. Da sie vor Jahren nach Deutschland – genauer gesagt: nach Freiburg im Breisgau – gezogen ist, war sie näher am zunächst vermuteten Geschehen dran. Denn das einzige, was einem Onkel zu Ohren gekommen war: Über das Deutsche Rote Kreuz (DRK) wurde eine Verbindung zu Gladbeck gezogen. „Wir haben in meiner Familie auch Verwandtschaft gesucht – von väterlicher Seite meine Oma. Ihre Schwester hat in Deutschland vom DRK Informationen erhalten“, sagt Daria Eipert.
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Ein paar Anhaltspunkte für die Recherche gaben Familiendokumente. Ansonsten bedauert Olga Fansworth auf Englisch: Die meisten sowjetischen Archive seien zerstört worden; die Chance, irgendwelche Informationen auszugraben, tendiere gegen Null. Aber ein paar Einzelheiten kamen doch ans Tageslicht.
Hier beginnt Mihail Filimonenkos Geschichte, soweit sie heute rekonstruierbar ist. Ein Leben voller Tragik, Härten und Schmerzen. Er stammte aus einem Dorf namens Sadovka, im Norden Kasachstans gelegen. Verheiratet war Olgas Urgroßvater mit Marfa Zaharova. Sie starb, so war zu erfahren, in einem Wald, als sie auf dem Weg in ein Krankenhaus war. Die 39-Jährige schildert, dass ihre Ahnin schwanger mit dem dritten Kind gewesen sei. Mutter und das Baby starben. Der Sohn Grigorij – Olgas Großvater – war zu dem Zeitpunkt zwei Jahre, seine Schwester Masha vier Jahre alt.
Die Urgroßmutter starb auf dem Weg ins Krankenhaus
Deren Großmutter Nastya habe das kleine Mädchen aufgenommen. Der Junge Grigorij wuchs bei seiner Stiefmutter Tatyana Larina auf. Anno 1929 hatte Mihail, zu dessen Namen verschiedene Schreibweisen existieren, sie geheiratet. „Er war so etwas wie ein Einkäufer für das Dorf. Er besorgte zum Beispiel Lebensmittel und Mähdrescher“, weiß Daria Eipert. Bis er russischer Soldat im Zweiten Weltkrieg wurde. „Mihail kam an die Front auf der Krim“, so die 40-Jährige. Gesicherte Angaben zu weiteren Stationen verlieren sich. Nur so viel scheint zu stimmen: „Er wurde in Deutschland gefangen genommen“ – und eben nach Gladbeck gebracht. Dort starb er mit noch nicht einmal 40 Jahren.
Auch dort, bei Silke Kuckert-Brinkmann vom Zentralen Betriebshof, fragten Nachkommen und Freundin an. Daria Eipert schrieb an die Chefin der Abteilung „Friedhofsunterhaltung“. Mihail Filimonenkos Urenkelin suche dessen Grab, das sie „unbedingt so bald wie möglich besuchen“ wolle. Hat er tatsächlich in Gladbeck seine letzte Ruhestätte gefunden? In einem Einzelgrab? Hält eine Inschrift seinen Namen in Erinnerung?
Silke Kuckert-Brinkmann konnte die so sehnlich erwarteten erlösenden Antworten geben. „Das Grab vom Michail Filimonenko befindet sich auf dem Ehrengrabfeld an der Feldhause Straße 24 auf dem Friedhof Mitte.“ Reihe 11 Nummer 8, vom Denkmal aus gezählt. Leider sei die Schrift mittlerweile ziemlich verblichen, bedauert die Expertin. Doch der Name ist erkennbar. Und die Daten von Geburt und Tod: geboren am 24.10.1904, gestorben am 19.7. 1944.
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Als Olga Farnsworth diese für sie frohe Kunde erreichte, flossen Tränen der Erleichterung und Rührung. Und auch Freundin Daria musste weinen. Sie findet: „Es ist unglaublich, dass es noch Menschen gibt, die sich für die vergessenen Soldaten interessieren.“ Vielleicht helfe diese erfolgreiche Suche anderen Menschen, „die Gräber ihrer verlorenen Verwandten zu finden“.
Ein weiterer weißer Fleck in Mihail Filimonenkos Biografie – neben Details aus seinem Soldatenleben – ist allerdings geblieben: Was hat ihn ausgerechnet nach Gladbeck verschlagen? Silke Kuckert-Brinkmann vermutet, dass der russische Soldat hier als Zwangsarbeiter schuften musste. Sie meint: „Höchstwahrscheinlich hat ihn eine Bombe getötet.“
Ein Besuch am Grab des Urgroßvaters ist geplant
Aber für Olga Farnsworth ist eines entscheidend: Sie kann zum Grab ihres Urgroßvaters gehen und trauern. Für das kommende Jahr hat die Urenkelin von Mihail Filimonenko eines fest ins Auge gefasst: ein Besuch in Gladbeck. Wo die Odyssee des russischen Soldaten und sein Leben endeten.
Und wieder herrscht Krieg vor unserer Haustür
Und auch das ist Geschichte: Wieder herrscht Krieg vor unserer Haustür, kämpfen Männer wie einst Mihail Filimonenko gegeneinander. Irgendwo in Russland, in der Ukraine oder in einem anderen Land suchen Frauen nach ihren Ehemännern, Vätern, Brüdern, trauern Kinder, Enkel und andere Angehörige um gefallener, gefangene und verschollene Soldaten. Für diese Familien gibt’s keine fröhliche Weihnacht.