Gladbeck. Corona hat das Leben junger Menschen dramatisch verändert. Immer mehr Kinder und Jugendliche werden psychisch krank. Ein Facharzt berichtet.

„In den vergangenen 14 Jahren ist die Zahl der Fälle, in denen wir Kinder und Jugendliche behandelt haben, dreimal so schnell angestiegen, wie in den ersten 41 Jahren seit unserer Gründung“, sagt Dr. Rüdiger Haas, Ärztlicher Direktor der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Marl, zu deren Einzugsgebiet auch Gladbeck gehört. Auch die Corona-Pandemie zeigt Auswirkungen.

Psychische Erkrankungen werden mittlerweile früher festgestellt

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie sei ein wichtiger Bestandteil der Medizin geworden, so Haas. Dass die Fallzahlen zunehmen, läge nicht nur daran, dass junge Menschen häufiger erkrankten, sondern auch, dass psychische Erkrankungen früher festgestellt würden, und die Hemmschwelle, sich Hilfe zu suchen, erfreulicher Weise geringer geworden sei.

Die Corona-Pandemie hat die Zahl der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen steigen lassen.
Die Corona-Pandemie hat die Zahl der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen steigen lassen. © Jakob Studnar

Trotzdem sei die Situation sehr ernst, auch vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie mit ihren gravierenden Einschränkungen für junge Menschen. Haas erwartet einen weiteren Anstieg der Zahlen zum Beispiel in Bezug auf Essstörungen, Schulängste und Zwangsstörungen. Der Anteil der jungen Patienten mit einer depressiven Episode liege bei rund ein Drittel. Das habe sich in den vergangenen zehn Jahren nicht geändert.“ Unter einer depressiven Episode verstehen Mediziner, wenn Symptome im Kinder- und Jugendalter länger als zwei Wochen bestehen. Das sind bei kleinen Kindern bis zu etwa sechs Jahren: erhöhte Ängstlichkeit, körperliche Beschwerden, heftige Temperamentsausbrüche und Verhaltensprobleme wie aggressives Verhalten. Bei älteren Kindern ist eine depressive Episode durch Antriebslosigkeit, Gefühle der Hoffnungslosigkeit oder auch eine dauerhafte Gereiztheit gekennzeichnet. Frühzeitig erkannt, lasse sich eine depressive Episode sehr gut therapieren und heilen.

Schulangst als Ausdruck einer Depression

Dagegen nähmen Diagnosen zu Zwangsstörungen nur einen ganz kleinen Anteil der stationären Patienten ein. Das seien im Jahr weniger als 20 Patienten. Immer wieder taucht aktuell der Begriff Schulangst auf. „Schulangst an sich ist keine Diagnose. Schulangst bzw. Schulabstinenz findet ihren Widerhall in Krankheitsbildern wie einer Depression, zum Beispiel wegen des einhergehenden sozialen Rückzugs oder einer sozialen Phobie mit Vermeidung aller sozialen Kontakte“, erklärt der Klinikleiter. Nachdenklich machen sollte der Blick auf Corona. Dr. Haas: „Was unter Corona deutlich zugenommen hat, sind Essstörungen. Hier kann man durchaus von einer Zunahme von mehr als der Hälfte an Fällen sprechen.“

Wurden in den Anfängen der LWL-Klinik Marl-Sinsen mehrheitlich junge Menschen mit einer geistigen Behinderung behandelt, heißt die Diagnose heute vielfach: depressive Episode. Auch die Art der Therapie hat sich im Laufe der Jahre signifikant verändert, weg von einer Betreuung, hin zu einer modernen Therapie mit Konzepten nach aktuellen wissenschaftlich Leitlinien. Auch die Verweildauer hat deutlich abgenommen, von anfangs häufig mehr als zwölf Monaten zu etwa vier Wochen im Durchschnitt. Manchmal reichen auch wenige Tage für eine Stabilisierung der jungen Patientinnen und Patienten.

Das soziale Umfeld der jungen Patienten wird bei der Behandlung mit einbezogen

Fortbildung zur Multifamilientherapie

Die LWL-Klinik Marl-Sinsen ist eine der größten Fachkliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland. Auf zwölf Stationen werden Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen, Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatischen Störungen behandelt, bei denen eine Krankenhausbehandlung erforderlich ist.

Die Klinik bietet seit 2017 in Kooperation mit dem ifs Essen (Institut für systemische Familientherapie, Supervision & Organisationsentwicklung) eine Fortbildung zur Multifamilientherapie an.

Seit 2017 wurden 55 Mitarbeitende aus dem Pflege- und Erziehungsdienst sowie dem Ärztlich-Therapeutischen Dienst der LWL-Klinik Marl-Sinsen ausgebildet. Mehr auf haardklinik.lwl.org

Von 1966 (damals hieß die Klinik noch „Haardheim“) bis 2007 verzeichnete die LWL-Klinik Marl-Sinsen 25.000 Fälle, 2010 waren es dann schon 30.000. 2015 stieg die Zahl auf 40.000 und 2021 schließlich auf insgesamt 50.000 Fälle seit Bestehen. Die Therapie umfasst neben der psychiatrischen Behandlung ein breit gefächertes Angebot an Fachtherapien und Freizeitangeboten.

Auch um einen langfristigen Therapieerfolg zu erzielen, wird das soziale Umfeld der jungen Patientinnen und Patienten mit in die Behandlung einbezogen. Angeboten werden zum Beispiel Familieninteraktionstrainings und Psychoedukationsgruppen. Denn im Rahmen der Therapie spielt die Elternarbeit eine sehr große Rolle, um auch einen langfristigen Therapieerfolg zu sichern. Elternarbeit bedeutet, dass die Betreuer und Ärzte einen engen Kontakt und Austausch mit den Angehörigen/Bezugspersonen pflegen. Dazu gehört auch die Multifamilientherapie. Dabei handelt es sich um einen therapeutischer Raum, in dem Familien miteinander in Kontakt kommen und sich aus unterschiedlichen Perspektiven neu erleben können.

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