Gladbeck. Anna Hagemann war in Gladbeck Geschäftsfrau mit Leib und Seele. Davon zeugen auch Fotos. Tochter Ulla Schulte erinnert sich an vergangene Zeiten.
Mit Begriffen wie Emanzipation oder Feminismus hatte Anna Hagemann vermutlich nichts an der Mütze, um es mal leger auszudrücken. Dabei würde ihr Alltag nach heutiger Fasson genau in diese Schublade passen. Ein Foto für die Ausstellung „Frauenleben“ vermittelt einen Eindruck dieser Ladenbesitzerin aus Gladbeck. Die WAZ erzählt die Geschichte zu dem Bild.
Anna Hagemann, Jahrgang 1920, stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden – und zwar nicht etwa vornehmlich in Küche und Kinderzimmer, sondern in ihrem Geschäft im Herzen Gladbecks. Für Tochter Ulla Schulte ist ihre Mutter, die mit 91 Jahren starb, ein Vorbild – „in jeder Beziehung“. Die 62-Jährige dröselt die Entwicklung des Betriebs – „unterbrochen seit 1860 bis Januar 1998 in Familienhand“ – ein wenig auf.
Gladbeck: Aus „Hut Hagemann“ ist ein Bekleidungsgeschäft für Damen und Herren hervorgegangen
Sie erzählt: „Das ursprüngliche Geschäft befand sich in Dorsten. Hüte, Hemden, Krawatten, Orden und Ehrenzeichen wurden dort verkauft. Daher rührt auch die Bezeichnung „Hut Hagemann“. In den Anfängen handelte es sich um einen Herrenausstatter.“
Ihre Mutter, eine gebürtige Deeken, habe schon früh ins elterliche Geschäft einsteigen müssen, wo sie auch ihre Ausbildung absolvierte – „so mit 14 oder 15 Jahren“. „Dorsten war nach dem Krieg platt“, ruft Schulte in Erinnerung: „In den Fünfzigern, Sechzigern wurde das Geschäft aufgebaut.“ Der Grundstock wurde in einer „Baracke“ gelegt.
Der Zweitladen entwickelte sich zum Hauptstandort
Der spätere, zweite Standort in Gladbeck habe sich im Laufe der Zeit zum Hauptladen entwickelt. Ob erst an der Kaiserstraße 12 oder später an der Horster Straße: „Wir haben immer über dem Laden gewohnt.“
Zu Beginn habe ein Schwerpunkt im Sortiment auf Herrenhüten und Schirmen gelegen, später gab’s vor allem Strickwaren, auch für Damen. „Wir hatten eine sehr große Stammkundschaft“, denkt Ulla Schulte zurück. Und eines ist ebenfalls in ihrem Gedächtnis haften geblieben: „In der Nachkriegszeit gab es Probleme mit der Warenbeschaffung. Da ist meine Mutter mit dem Zug zum Beispiel nach Wuppertal gefahren. Und sie ging regelmäßig auf alle Messen, um sich zu informieren.“
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Ein- und Verkauf, Beratung, der Kontakt zur Kundschaft – das sei das Gebiet ihrer Mutter gewesen. Über Vater Heinz, Jahrgang 1915, sagt Schulte: „Büro, Bestellung, Preisauszeichnung, das war seins. Buchführung war sein Steckenpferd.“
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Wie aus dem Ei gepellt ist die Chefin auf Fotos aus dem Familienalbum zu sehen. Penibel gestapelt sind in den Regalen Artikel wie Herrenhemden. Ein Geschäft mit Stil, nicht 08/15-Klamotten an Stangen. In einer Chronik, die Ulla Schulte hütet wie ihren Augapfel, ist auf einem Bild sie selbst mittenmang zwischen den „Großen“ zu sehen.
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Der Laden mit etwa sechs Angestellten plus Auszubildenden, das war das Leben der Hagemanns. Tochter Ulla wuchs in die Branche hinein. Sie berichtet: „Es war eine Ausnahme, wenn wir zu dritt in den Urlaub gefahren sind.“ Schließlich mussten Beruf und Familie unter einen Hut gebracht werden. Rente? „Das war für diese Generation kein Thema.“ Und so stand denn Anna Hagemann auch noch bisweilen im Geschäft, als bereits Anette Bachmann den Laden übernommen hatte. Das war im Januar 1998: „Es ist Mutter schwer gefallen.“ Doch immerhin ging das Geschäft wieder in Frauenhand über.
Digitale Ausstellung
Eine digitale Ausstellung, in der auch ein Foto von Anna Hagemann präsentiert wird, führt dem Publikum das facettenreiche Frauenleben in Gladbeck vor Augen. Die Schau gestattet den Blick in den privaten Alltag der vergangenen Jahrzehnte und Gegenwart aus weiblicher Sicht.
Zum Internationalen Frauentag am 8. März soll die Präsentation, ein Gemeinschaftsprojekt des Museums in Wittringen und der städtischen Gleichstellungsstelle, an den Start gehen. Mehr als 20 Gladbeckerinnen haben dafür Fotos zur Verfügung gestellt.
Hatten die Kunden in der Nachkriegszeit noch „Lust auf Hut“, waren Stoff-Taschentücher und Ärmelhalter noch gefragt, änderten sich später die Zeiten. Auch so manche Dienstleistung kam aus der Mode. Wer lässt denn heutzutage noch einen Regenschirm reparieren? Doch die Art, mit Menschen umzugehen, die dürfte immer en vogue sein. „Meine Mutter war temperamentvoll, schlagfertig und lustig“, sagt Ulla Schulte. Offen sei sie auf Menschen zugegangen. Da war es Jacke wie Hose, ob sie einen Arzt oder einen Bergmann im Laden stehen hatte. Ach ja, nicht zu vergessen die lässige Großzügigkeit: „Eben ein typischer Widder!“ Wie die Tochter. Übrigens nicht die einzige Gemeinsamkeit mit der Mutter: Die heute 62-Jährige stieg ebenfalls in den Familienbetrieb ein.
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Schwiegersohn Axel Schulte beschreibt Anna Hagemann als stadtbekanntes Original. Die beiden verstanden sich prima, passten zu einander wie ein Handschuh zum anderen. „Sie war ein stadtbekanntes Original“, finden die Schultes. Dieses bestrickende Wesen – Kontaktfreude und Liebenswürdigkeit – legt einem fast die Charakterisierung „Mit Schirm, Charme und Melone“ – für Jüngere: Das war der Titel einer populären Fernsehserie aus den 1960ern – in den Mund. Doch das wäre überhaupt nicht nach dem Geschmack Anna Hagemanns gewesen. Tochter Ulla: „Geschäftsfrau mit Leib und Seele: Das hätte ihr gefallen.“